Fahrradstadt und so

  • Welche Entwicklungsstufe ist für Deutschland (und ähnlich entwickelte Länder) die nächste?

    Wir sind uns wohl einig, dass mehr Radverkehr gewünscht ist und diskutieren gerade darüber, wie man das erreicht.
    Wenn ich mich nicht irre, vertrittst Du die Ansicht, dass man das ohne gute Radwege schaffen kann, oder?
    Die Beispiele aus Europa tust als zufällige Koinzidenz ab und bringst Indien als Erfolgsbeispiel.
    Letzteres ist einfach falsch. Über ersteres kann man diskutieren.
    Es fällt mir aber schwer. Denn die Länder mit dem höchsten Radverkehrsanteil haben nunmal einfach die beste Infrastruktur. Fragt man die Verantwortlichen in Kopenhagen, wie es dazu kam, sind die Antworten eindeutig: "Wir haben Radwege gebaut und dadurch kam der Radverkehr". Ich sehen keinen Grund, daran zu zweifeln. Ganz im Gegenteil: Die vielen Gehwegradler zeigen, wie stark der Bedarf an einer Infrastruktur abseits der Fahrbahn ist.

  • Wenn ich mich nicht irre, vertrittst Du die Ansicht, dass man das ohne gute Radwege schaffen kann, oder?

    Da irrst du wohl.
    Ich habe mit

    Ich fasse mal zusammen:
    - es gibt Städte mit hohem Radverkehrsanteil und ausgedehnter Radverkehrsinfrastruktur (z.B. Kopenhagen)
    - es gibt Städte mit hohem Radverkehrsanteil ohne Radverkehrsinfrastruktur (z.B. Jaipur, Indien)

    lediglich versucht, die sich im Kreis drehende Diskussion um Radverkehr und Radverkehrsinfrastruktur und was zuerst da war, etwas abzukürzen und auf die eigentliche
    Frage zu lenken:

    Die Frage ist doch also, wie man von der aktuellen Situation in den Großstädten Deutschlands [...] zu einem deutlich höheren Radverkehrsanteil kommt.

  • Ganz im Gegenteil: Die vielen Gehwegradler zeigen, wie stark der Bedarf an einer Infrastruktur abseits der Fahrbahn ist.

    Ich würde es etwas anders deuten. Die Gehwegradler zeigen, dass ein großer Mobilitätsbedarf vorhanden ist und sie bereit sind diesen mit dem Fahrrad umzusetzen. Sie zeigen aber auch, dass sie nicht bereit sind, dies auf der Fahrbahn zu tun und okkupieren mangels Alternativen die Bereiche der schwächeren Verkehrsteilnehmer (so wie es Falschparker übrigens meist auch tun).
    Die Frage ist nun, ob man an den Symptomen herumdoktort und als Pille Radwege verschreibt (mit all ihren Nebenwirkungen) oder ob man die Ursache (die Zustände auf der Fahrbahn) angeht. Dass ich bereit bin auch mal in den Medizinschrank zu greifen hatte ich ja schon erwähnt, aber zu bitter sollte es auch nicht schmecken.

  • Radfahrstreifen (Radwege) sind ja rechte Fahrstreifen ohne Kfz. Also gehören auch freigegebene Busspuren und rechte Fahrstreifen auf mehrstreifigen Straßen, die von einigen Radfahrern befahren werden und so die Kfz nicht auf dem rechten Fahrstreifen fahren, weil diese nicht immer zwischen Radfahrern ein- und wieder ausscheren wollen, auch zu dieser Kategorie. Wenn man Radfahrstreifen ablehnt, dann muss man auch diese Führungsformen ablehnen.
    Vor Ampelkreuzungen sollte aber die Geschwindigkeitssortierung in eine Richtungssortierung überführt werden, damit hinter der Ampel Radfahrer nicht mehr vergessen werden.

  • Schön aufgeschlüsselt.
    Dass ich vor meiner Haustüre einen Schutzbereich gegenüber dem Gehweg bräuchte, ist mir allerdings neu. 8|

    Wie würdest Du Dich verhalten, wenn Du hier aus der Haustür trittst?

    Forschen Schrittes auf den Gehweg treten - peng - ist Dir ein flotter Fußgänger gegen die Schulter geknallt oder ein Kind vors Schienbein geradelt.
    Oder: auf der Schwelle stehenbleiben und gaaaaaanz vorsichtig den Kopf vorstrecken und die Lage peilen?

    Normalerweise hat man ja Vorgärten oder so was in der Richtung.

    Aber die Leute im EG vom Lattenkamp können ja nicht mal ein Staubtuch aus dem Fenster ausschlagen, ohne Gefahr zu laufen, ein Unfall zu verursachen ...

  • So eine Situation habe ich arbeitstäglich an einer Hofeinfahrt. Das ist dann nunmal so, dass man da nicht forsch vortritt, sondern erstmal kurz die Lage peilt. So wie man es eben beim Ausfahren eines Fahrzeugs auch machen würde/sollte.
    Ich war nur irritiert von der impliziten Annahme, da müssten irgendwelche Abstandsflächen existieren.

    Twitter: @Nbg_steigt_ab

  • So eine Situation habe ich arbeitstäglich an einer Hofeinfahrt. Das ist dann nunmal so, dass man da nicht forsch vortritt, sondern erstmal kurz die Lage peilt. So wie man es eben beim Ausfahren eines Fahrzeugs auch machen würde/sollte.
    Ich war nur irritiert von der impliziten Annahme, da müssten irgendwelche Abstandsflächen existieren.

    Und alles nur, weil die Autos in zwei Reihen fahren plus in zwei Reihen stehen müssen.

  • Ich war nur irritiert von der impliziten Annahme, da müssten irgendwelche Abstandsflächen existieren.

    Laut EFA bzw RASt sollten Gehwege 2,50 m breit sein und eben auch 20 cm "Sicherheitsabstand" zu Gebäuden/Mauern aufweisen:

    Das Grundmaß für den „Verkehrsraum“ des Fußverkehrs ist auf den Begegnungsfall bzw. das Nebeneinandergehen von zwei Personen ausgerichtet und beträgt daher 1,80 Meter. Es ist um je einen seitlichen Sicherheitsraum von 0,50 Metern Abstand zu einer Fahrbahn oder einem Längs-Parkstreifen und 0,20 Meter Abstand zu einer Einfriedung oder einem Gebäude zu ergänzen. Dadurch ergibt sich ein „lichter Raum“ bzw. als „Regelbreite“ das absolute Mindestbreite für Seitenraum-Gehwege von 2,50 Metern (RASt, 6.1.6.1, vgl. 4.7),

    Natürlich gibt’s auch Ausnahmen (weiter unten auf der verlinkten Seite). So oder so scheinen es etliche Planer nicht allzu genau zu nehmen... Das was hier auf’m Dorf unter "Gehweg" läuft, spottet teilweise jedweder Beschreibung.

  • Es fällt mir aber schwer. Denn die Länder mit dem höchsten Radverkehrsanteil haben nunmal einfach die beste Infrastruktur. Fragt man die Verantwortlichen in Kopenhagen, wie es dazu kam, sind die Antworten eindeutig: "Wir haben Radwege gebaut und dadurch kam der Radverkehr". Ich sehen keinen Grund, daran zu zweifeln. Ganz im Gegenteil: Die vielen Gehwegradler zeigen, wie stark der Bedarf an einer Infrastruktur abseits der Fahrbahn ist.

    Ich habe mich in den letzten drei Tagen bei Gelegenheit hingesetzt und tatsächlich eine endlos lange Liste mit Namen von Menschen erstellt, mit denen ich schon einmal Fahrrad gefahren bin. Dann habe ich alle Personen gestrichen, die aus dieser Hamburger Fahrradszene, dem Radverkehrsforum oder der Critical Mass stammen, die also ohnehin größtenteils auf der Fahrbahn unterwegs sind und die ich nicht zu diesen „normalsterblichen Radfahrern“ zähle.

    Übrig blieben 67 Menschen, mit denen ich schon einmal Fahrrad gefahren bin und an deren Namen und Fahrverhalten ich mich so einigermaßen erinnern kann.

    Lediglich ein einziger davon fährst regelmäßig auf der Fahrbahn. Das ist ein sehr guter Freund von mir, der ebenfalls durch dieses Critical-Mass-Ding sozialisiert wurde, aber den ich nicht gestrichen habe, weil er eigentlich eher so nebenbei dort reingerutscht ist und nicht der typische Critical-Mass-Teilnehmer ist. Er lässt sich aber auch nicht vom Gehupe vertreiben und ist demnach eher „einer von uns“.

    Bei fünf anderen Menschen kann ich mir vorstellen, dass man mit ihnen auf der Fahrbahn könnte, weil sie nämlich im Besitz eines Rennrades und demnach dem Schnellfahren nicht so ganz abgeneigt sind. Ich verstehe das Fahren mit höherer Geschwindigkeit als Türöffner, um mit solchen Leuten dann auch auf der Fahrbahn zugange zu sein.

    Meine persönliche Statistik sieht also so aus, dass 1,5 Prozent der Radfahrer auf der Fahrbahn fahren. Bei weiteren 7,5 Prozent sehe ich eine Möglichkeit, die Menschen dauerhaft auf die Fahrbahn zu bekommen.

    Dann bleiben aber noch weitere 91 Prozent übrig, bei denen ich keine Ahnung habe, wie ich sie auch nur ansatzweise auf die Fahrbahn bekommen sollte.

    Ich fange gleich mal mit dem Extrembeispiel an: Mein Großvater war 93 Jahre alt, als der Herr die Zeit gekommen sah, ihn zu sich zu holen. Großvater war aber fit bis ins hohe Alter, das Autofahren hatten wir ihm zwar abgewöhnt, aber mit dem Rad war er immer noch unterwegs. Weil er zwar fit, aber nicht mehr so richtig beweglich war, musste er regelmäßig absteigen, denn solche Experimente wie Schulterblick, linken Arm raushalten und links abbiegen machte die Muskulatur nicht mehr mit. In seinem Heimatort war er in der komfortablen Situation, dass sich die 1,5-Meter-Geh-und-Radwege mit [Zeichen 240] in beiden Richtungen befahren ließen, aber abseits der Hauptstraßen blieb er lieber auf dem Gehweg, weil sein Reaktionsvermögen nicht mehr das beste war. Nun könnte man zwar argumentieren, dass man gerade mit dem mangelnden Reaktionsvermögen vielleicht besser nicht dort fährt, wo jemand plötzlich den Rückwärtsgang einlegt und quer auf dem Gehweg vor der Grundstückseinfahrt steht, aber… 93 Jahre? Da habe ich erst gar nicht den Versuch unternommen, irgendwie mit ihm zu diskutieren. Er fühlte sich auf Rad- und Gehwegen sicher, gondelte da mit zehn bis zwölf Kilometern pro Stunde hin und war auf diese Weise mobil — ihn davon zu überzeugen, er solle doch lieber auf der Fahrbahn fahren, hätte wohl eher dafür gesorgt, dass er das Rad stehen lässt.

    Eine Kommilitonin von mir ist 26 Jahre alt und fährt ebenfalls regelmäßig mit dem Rad — aber halt auch immer brav auf dem Radweg. In der Tempo-30-Zone klappt auch die Sache mit der Fahrbahnradelei, ansonsten wird auf dem Gehweg gekurbelt, wenn es keinen Radweg gibt. Gleichzeitig wird aber auch mal hin und wieder eine Ampel bei rot mitgenommen, wenn gerade kein Auto in der Nähe ist und wenn man eh bald links abbiegen möchte, ist auch Geisterradeln okay. Durch einen fiesen Trick habe ich es mal geschafft, mit ihr direktes Linksabbiegen über einen Linksabbiege-Fahrstreifen zu praktizieren — sie hätte mich ernsthaft am liebsten umgebracht. Auf dem Fahrstreifen zum Geradeausfahren standen drei Autos, hinter uns ein weiterer Wagen, aber sie empfand das als ausgesprochen super-gefährlich. Ich habe keinen Schimmer, wie ich sie auf die Fahrbahn bringen sollte.

    Ein weiterer Kommilitone war 23 Jahre alt, als er sich von seinem Werkstudenten-Gehalt mal wieder ein stabiles Fahrrad angeschafft hatte. Damit wollte er täglich zur Uni und zurück fahren, fit bleiben und abnehmen und so, aber sein Problem war, dass er vorher das Radverkehrspolitik-Blog gelesen hatte und daher informiert war, wo man Fahrrad fährt und wo nicht. Sein Weg führte aber teilweise die B431 in Wedel entlang, die im markierten Bereich ohne Radverkehrsinfrastruktur auskommt — und man wird im Regelfall mindestens einmal pro Strecke gemaßregelt, wenn man dort Fahrbahnradeln praktiziert. Es ist eben ziemlich eng, geht nicht besonders schnell voran und alle anderen Radfahrer kampfradeln nebenan auf dem Gehweg, da wird der einzige Fahrbahnradler natürlich umso mehr als Störfaktor wahrgenommen. Jedenfalls hatte mein Kommilitone nach drei oder vier Tagen die Nase voll, bemängelte mir gegenüber die fehlende Infrastruktur und fuhr danach wieder mit dem Auto zur Uni. Ich habe ihn allerdings noch regelmäßig mit dem Rad herumfahren sehen, allerdings… eher auf Rad- und Gehwegen.

    Mein Vater ist 65 Jahre alt und fährt seit der Pensionierung wieder regelmäßiger mit dem Rad herum. Er nutzt brav jeden Radweg, fährt aber prinzipiell eher nicht auf Gehwegen, weil er Gehwegradler wie die Pest hasst. Er käme allerdings nie auf die Idee, trotz Radweg auf der Fahrbahn zu fahren — zwar kennt er dank mir mittlerweile alle Untersuchungen bezüglich der Sicherheit von Radwegen, aber ihm ist seine Ruhe auf dem Rad sehr wichtig. Das kann ich auch verstehen: Wenn man oben in Rendsburg trotz Radweg mitten auf der Straße fährt, folgen sofortige Maßregelungen, selbst auf den ziemlich brisanten Strecken, die ohne blaues Schild auskommen. Da hat er keine Lust drauf, denn er will nicht schnell von A nach B kommen, sondern das Radfahren genießen — als Pensionär hat er ja Zeit.

    Und so weiter und so fort. Bei all diesen Menschen fehlt mir jegliche Idee, wie ich sie vom Fahrbahnradeln begeistern sollte. Aber ich kann bei den meisten bereits am Fahrverhalten ablesen, dass sie wohl eher nicht für das Fahrbahnradeln zu überzeugen sind. Wenn man mit denen ins Gespräch kommt, ist die Fahrtrichtung auch sofort klar: Wenn es bessere Radwege gäbe, dann führen sie auch mehr Fahrrad. Aber sie wollen trotz aller noch so tollen objektiven Vorteile nicht auf der Fahrbahn radeln, weil es ihnen subjektiv unsicher erscheint, weil sie dort zwischen den Autos herumstehen und im Zweifelsfall gemaßregelt werden.

    Ich sehe es ja an mir selbst: Wenn ich in die Verlegenheit kommen sollte, mit dem Rad zur S-Bahn zu fahren, dann nähme ich mittlerweile lieber die Elbgaustraße mit dem tollen 1,25-Meter-Hochsicherheitsradweg mit dem freigegebenen Gehweg zwischendurch. Einfach nur, weil ich dort im Gegensatz zur Fahrbahn niemandem im Nacken habe — dann fahre ich lieber halb so schnell, passe an jeder Kreuzung und Einmündung auf, ob ich womöglich übersehen werde, aber ich bin im Herrgottesnamen dankbar dafür, dass mir niemand am Hinterrad hängt und mich am liebsten totfahren möchte.

    Oder mal eine Ebene höher betrachtet: Ich hatte im letzten Dreivierteljahr zwei Unfälle mit Gehirnerschütterung, einer in einer Tempo-30-Zone, in der mich ein Kraftfahrer erst beinahe überfahren hätte und mich anschließend verprügelte, der andere auf einem Radweg, wo ich mir mit einem anderen Kraftfahrer trotz Blickkontakt nicht im Klaren war, wer nun zuerst fährt. Dazu kommt aber noch eine unendlich lange Liste an Maßregelungen auf der Fahrbahn, beginnend mit Anhupen und guten Wünschen durchs Beifahrerfenster, endend mit Prellungen im Krankenhaus, weil jemand mich mit seinem Wagen abgedrängt hat, weil er irgendwo einen Radweg gesehen hat. Ich weiß nicht — wie soll ich mich denn verhalten, das so etwas nicht passiert? Und: Wie bringe ich es meiner Freundin bei? Ein drittes Mal steht sie diesen Anruf von der Polizei, dass ihr Freund halb unter dem Auto liegt und nicht mehr spricht, wahrscheinlich nicht durch.

    Mir ist sehr wohl bekannt, dass eine Fahrbahn objektiv sicherer ist, aber ich kann langsam echt nicht mehr behaupten, dass ich gerne Fahrbahnradelei praktiziere. Mittlerweile meide ich sogar bestimmte Strecken ohne Radweg, weil es mir einfach zu stressig ist. Ich will momentan mit meinem Fahrrad von A nach B fahren, aber jedes Mal, wenn ich auf den Sattel steige, kämpfe ich in einem Krieg mit, den ich gar nicht kämpfen will. Mittlerweile wird es zu einem Politikum, das Fahrrad aus dem Keller zu holen, weil man sich damit gesellschaftlich positioniert.

    Wie absurd das alles ist!

    Ich will einfach nur entspannt ins Bureau fahren. Aber ausgerechnet dieses Radfahren, dass angeblich so einfach ist, dass es jedes Kind beherrscht, ist so kompliziert, dass man sich tausend Gedanken über irgendwelchen Kram machen muss.

    Ich weiß auch nicht, ob nun Radwege oder Fahrbahnen nun der heilige Gral der Radverkehrsförderung sind. Und ich weiß, dass ich nicht wissenschaftlich beweisen kann, dass mehr Radwege zu mehr und besserem Radverkehr führen — aber wenn ich Kopenhagen, Amsterdam oder Groningen mit London, Berlin und Hamburg vergleiche und anschließend noch meine Erfahrungen aus Gesprächen mit anderen Radfahrern mit einfließen lasse, dann scheint es mir doch relativ eindeutig zu sein, dass eine gute, sichere, aber eben auch separierte Fahrradinfrastruktur zumindest nichts ist, was dem Radverkehr nachhaltig schadet.

    Klar, wenn im Jahr 2050 nur noch halb so viele Verbrennungsmaschinen unterwegs sind und flächendeckend Tempo 30 gilt, dann mag auch die Fahrbahnradelei größere Akzeptanz erfahren. Nur: Was macht man bis dorthin?

  • Bei der Sache mit den Unfällen fehlte noch ein Absatz, den ich der Fairness halber separat nachschieben möchte, nachdem schon zwei Forenteilnehmer den Daumen gehoben haben.

    Mir ist nämlich natürlich auch klar, dass die Hamburger Radwege alles andere als sicher sind — dazu gibt es ja genügend Beiträge im Forum „Verhalten im Straßenverkehr“. Und dass ich auf meinem Weg in die Innenstadt auf anderthalb Kilometern gleich drei Kreuzungen habe, an denen ich sofort tot wäre, wenn ich meine Vorfahrt wahrnähme, spricht ja auch nicht gerade für die Sicherheit dieser Radwege.

    Nur: Ob ich dort sterbe oder nicht, das kann ich zu einem Großteil selbst beeinflussen — indem ich nämlich langsamer fahre. Wenn ich weiß, dass ich an der Kreuzung zwischen Kieler Straße und Reichsbahnstraße übersehen werde, dann fahre ich dort eben langsamer oder halte an. Das ist natürlich ein Trauerspiel sondergleichen und ein Armutszeugnis für eine Stadt, die sich gerne mit dem Attribut „Fahrradstadt“ schmücken möchte, aber es sichert mein Weiterleben auf diesem Planeten. Wenn ich weiß, dass an dieser Stelle häufig Kraftfahrer mit Karacho auf den Radweg fahren, um dann auf ebenjenem Radweg einige Meter bis zu einem Parkplatz in der zweiten Reihe zurückzulegen, dann fahre ich eben langsamer. Dann düse ich dort eben nicht mit 30 Sachen entlang, sondern nur noch mit 15 Kilometern pro Stunde.

    Ja! Es ist total bescheuert, in Hamburg auf einem Radweg zu fahren. Aber dem entgegen steht dieses ewige Gehetze auf der Fahrbahn, erst recht dann, wenn es nebenan einen Radweg gibt, der womöglich noch blau beschildert ist. Das ist mir noch viel stressiger — und es bereitet mir keine Freude mehr.

    Und momentan steht mir die Scheiße bis zum Scheitel, so dass ich momentan jeden Tag wieder in die S-Bahn steige, weil ich einfach keine Lust auf diesen ewigen Mist habe.

  • Natürlich gibt’s auch Ausnahmen

    Ganz Hamburg ist eine einzige Ausnahme! Wie sonst ist zu erklären, dass zuhauf Gehwegparken angeordnet wird, obwohl für Fußgänger nachweislich ein Meter oder weniger übrig bleibt?

    "Terrorismus ist der Krieg der Armen und der Krieg ist der Terrorismus der Reichen"
    Peter Ustinov

  • Wie sonst ist zu erklären, dass zuhauf Gehwegparken angeordnet wird, obwohl für Fußgänger nachweislich ein Meter oder weniger übrig bleibt?

    Das hat mit den laut EFA vorgesehenen Ausnahmen nichts zu tun. Wenn RASt, EFA und ERA konsequent ignoriert werden bzw. nicht verbindlich sind, kommt schlicht ein Haufen Mist bei rum. Wobei mir die rechtliche Situation in HH nicht bekannt ist. Bei all den Berichten hier, gehe ich aber schwer davon aus, dass es keine entsprechenden Erlasse zur Verbindlichkeit gibt ;)

    In NRW sind die ERA immerhin für Bundes- und Landesstraßen verbindlich, aber den Kommunen leider nur "generell zur Anwendung" empfohlen. Damit erklären sich dann die im Regelfall guten Rad-/Kombiwege an Land- und Bundesstraßen und die selten konsequent an Richtlinien oder Empfehlungen orientierte Infrastruktur in den meisten Kommunen.

  • Es gibt in Hamburg ein Platzproblem, und der größte Platzfresser ist der PKW. Ich sehe als einzige Möglichkeit, Hamburg von einer Autostadt zu einer Menschenstadt zu machen, dem PKW sehr viel Platz wegzunehmen und an die anderen Verkehrsarten umzuverteilen. Ausreichend breite Gehwege (2 Rollifahrer o.ä. können sich problemlos begegnen) und ausreichende Flächen für den Radverkehr: Entweder ähnliches Tempo wie KFZ und dann Mischverkehr. Oder genügend Seitenabstand zu PKW und die Möglichkeit, langsamere Radfahrer sicher zu überholen. ÖPNV führt man am besten unterirdisch auf eigenen Strecken, das spart Platz an der Oberfläche, man kann unten schneller fahren und steht nicht im Stau.

    Ein gutes Beispiel für Platzumverteilung ist der Radfahrstreifen im Wiesendamm, zumindest wenn der Rest so aussehen wird, wie bisher der Anfang. Weniger Platz für den Autofahrer, mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer. Es ist Separierung, aber trotzdem finde ich es eine gute Lösung.

    Und wenn dadurch, dass der Parkdruck höher wird, paar Menschen künftig auf den PKW verzichten, wird es auch automatisch weniger PKW-Fahrten geben.

    tl;dr: Der Weg in die Fahrrad- (oder Menschen-)stadt führt nur über einen massiven Platzverlust für den ruhenden und fließenden KFZ-Verkehr.

    Solange Dummheit als plausible Erklärung ausreicht, sollte man keinen Vorsatz annehmen.

  • Hilfreich wären Anwohnerparkzonen, Lieferparkplätze, Kurzzeitparkplätze.
    Und ein entsprechendes Gebührenprogramm. Ich kann nicht verstehen, dass manche Haushalte bis zu 4 öffentliche Parkplätze beanspruchen ohne dafür
    zur Kasse gebeten zu werden. In meiner Wohnstrasse, hauptsächlich EFH Bebauung, kann man das sehr schön beobachten.
    Manche Nachbarn haben bis zu 4 Wagen pro Haushalt, entsprechend sind alle Parkplätze ausgelastet. Hätte jeder Haushalt nur einen PKW, wäre der komplette Straßenzug quasi leer,
    Lieferanten müssten nicht auf der Fahrbahn stehen, Besucher nicht ewig um den Block fahren.

  • Separierung ist ja an sich nicht schlecht, wenn sie wirklich bedarfsgerecht gemacht wird.
    So lange aber nur so viel separiert wird, wie der Autoverkehr zulässt, ohne Rücksicht, ob es der separierten Verkehrsart was bringt oder nicht, ist es schlecht gemacht. Und abzulehnen.
    Letzteres ist die Regel, ersteres die absolute Ausnahme.

    bye
    Explosiv smilie_be_131.gif

  • Und, wie ist sie gut gemacht?

    Das Wichtigste sind ja die Kreuzungen.

    -Heranführung des Radweges an die Fahrbahn
    -Berliner Lösung
    -Überführung in Radstreifen
    -Veloweichen (Rechtsabbiegestreifen)
    -Gem. Fahrstreifen für Radfahrer und Rechtsabbieger
    -Protected Intersection/ Niederländisches Design mit abgesetzten Furten (Best-Practice nach Berliner Radentscheid)
    -Konfliktfreie Phase (Rechtsabbiegestreifen, lange Wartezeiten)

    Die kursiv gedruckten sind ERA-Lösungen.

  • Wir sind uns wohl einig, dass mehr Radverkehr gewünscht ist und diskutieren gerade darüber, wie man das erreicht.Wenn ich mich nicht irre, vertrittst Du die Ansicht, dass man das ohne gute Radwege schaffen kann, oder?
    Die Beispiele aus Europa tust als zufällige Koinzidenz ab und bringst Indien als Erfolgsbeispiel.
    Letzteres ist einfach falsch. Über ersteres kann man diskutieren.
    Es fällt mir aber schwer. Denn die Länder mit dem höchsten Radverkehrsanteil haben nunmal einfach die beste Infrastruktur. Fragt man die Verantwortlichen in Kopenhagen, wie es dazu kam, sind die Antworten eindeutig: "Wir haben Radwege gebaut und dadurch kam der Radverkehr". Ich sehen keinen Grund, daran zu zweifeln. Ganz im Gegenteil: Die vielen Gehwegradler zeigen, wie stark der Bedarf an einer Infrastruktur abseits der Fahrbahn ist.

    Es war nicht Johann, der diese Meinung vertritt, sondern ich.
    Ich tue eine mögliche Korrelation nicht als Zufall ab; sie ist für meine Position schlicht unerheblich.
    Auch führe ich Indien nicht als Erfolgsmodell ab sondern als Gegenbeispiel für eine Korrelation.

    Damit ist Eure Annahme, man bräuchte Radwege, erst einmal widerlegt. Darum ging es mir dabei eigentlich gar nicht, weil ich davon ausgegeangen bin, dass Ihr das Beispiel ignorieren, nicht anerkennen würdet, weil ...
    ..., weil eine Korrelation für Eure Position notwendig (aber nicht hinreichend) ist.
    Um der Diskussion Willen können wir im Weiteren jedoch davon ausgehen, dass sie in der 1. Welt vorhanden ist.

    Es wir aber auch etwas anderes gezeigt: Mischverkehr ist in weiten Teilen der Welt selbstverständlich und funktioniert. Radfahrer fahren selbstverständlich auf der Fahrbahn.

    Ihr seid ja Freunde von Korrelationen; da stelle ich eine mögliche zur Diskussion (die dann sogar global): Radwege sind mit der Fahrbahnphobie korreliert.

    Jetzt stelle ich an die Radwegesindnotwendigvertreter die Frage: Sind Radwege auch ohne Fahrbahnphobie notwendig?

  • Jetzt stelle ich an die Radwegesindnotwendigvertreter die Frage: Sind Radwege auch ohne Fahrbahnphobie notwendig?

    Wenngleich ich nicht als Radwegesindnotwendigvertreter gelten möchte und kein Fahrbahnphobiker bin, möchte ich lösen ... antworten:

    "teilweise ja"
    bzw, ganz korrekt: an bestimmten Straßen mit sehr hoher Verkehrsbelastung, vielen Fahrspuren und im wesentlichen 2 Hauptfahrrichtungen sind meiner Meinung nach Radwege notwendig.
    Zumindest so lange, wie der KFZ-Verkehr dort ein gerüttelt Maß an Rücksichtslosigkeit und Geschwindigkeit an den Tag legt.


  • Jetzt stelle ich an die Radwegesindnotwendigvertreter die Frage: Sind Radwege auch ohne Fahrbahnphobie notwendig?

    Dann gebe ich mal eine andere Frage an die Fahrbahnvertreter zurück: Wie bekommt man denn nun diese 98 Prozent der Radfahrer, die die Fahrbahn auf jeden Fall meiden, auf die Fahrbahn? Wie sehen denn Ansätze von Maßnahmen aus, um den Radverkehr binnen der nächsten zehn Jahre wesentlich auf die Fahrbahn zu verlagern? Und dann bitte realistisch bleiben: Einfach die komplette Innenstadt innerhalb des Rings 2 für den Kraftverkehr sperren ist vielleicht ein bisschen zu leicht, denn das wird nicht passieren. Tempo 30 im kompletten Stadtgebiet halte ich für ebenso ambitioniert.

    Ohne hier irgendjemanden zu nahe treten zu wollen: Es ist ja schön, sich auf wissenschaftlichem Niveau darüber zu unterhalten, ob Radwege notwendig sind oder nicht, aber mir fehlt bei diesen Unterhaltungen immer die eigentlich doch allerwichtigste Komponente: Welche realistischen Möglichkeiten bestehen zur Umsetzung dieser Ideen? Und da fällt mir immer ein, dass ich zwar lustig mit Korrelationen und ähnlichem rechnen kann, aber mir trotzdem von diesen 67 Menschen, die ich in meiner Liste stehen habe, 61 bis 66 sagen, dass sie nur sehr ungern auf der Fahrbahn fahren wollen — und dann im Zweifel lieber das Rad stehen lassen.