„Radmesser“ des Tagesspiegels, Unfälle im Längsverkehr

  • Ob das Mittigfahren wirklich dazu führt, seltener Kontakt mit Autofahrern zu haben?

    Eindeutig nein.

    Dafür gibt es zwei Gründe:

    1) Wer betont mittig fährt, riskiert, dass ihn *Schlafmützen* rammen könnten, die ihn bei randnäherer Fahrweise ganz verfehlt hätten oder ihm zumindest in letzter Sekunde noch hätten reflexartig ausweichen können.

    2) Wer betont mittig fährt, provoziert mehr Maßregelungsnötigungen durch *Asis*, die dann nachfolgend zu Berührungen oder Schlimmerem führen könnten - insbesondere dann, wenn man das Angebot zur Road-Rage-Eskalation seitens des Überholers dankend annimmt und die zunächst noch stets kontaktlos ablaufende Einstiegs-Nötigung mit verbalen oder physischen Reaktionen beantwortet.

    Die Variante 1) spielt vor Allem außerorts eine große Rolle. Innerorts sind die Geschwindigkeitsdifferenzen klein genug dafür, dass das echte Übersehen von zentral fahrenden Radlern als Unfallauslöser unbedeutend ist. Dafür ist Möglichkeit 2) innerorts der Hauptfaktor für Berührungen. Das zeigt eindeutig auch die dramatische Häufung von "Berührungen" in der laufenden Umfrage bei wenigen ganz bestimmten Personen.

  • Ich halte diese Begründungen für relativ schlüssig. Es ist schon auffällig, dass hier die Erlebnisse einzelner Radfahrer doch extreme Ausreißer nach oben aufweisen. Meine Anzahl der Kontakte läge nicht bei 0, wenn ich bei den Fällen, in denen ich von offensichtlichen "Schlafmützen" (grade vor unübersichtlichen Kurven oder bei Leuten mit dem Handy am Ohr / in der Hand) sehr knapp (im Bereich von 10 bis 20 cm) rasiert wurde, dementsprechend weiter links gefahren wäre.

    Es gibt hier halt keinen "Königsweg"; Mittigfahren wird oft als Allheilmittel angepriesen - in der Summe scheint es aber auch nicht viel zu bringen.

  • Überholende Lastzüge, die zu früh wieder nach rechts ziehen, sind nicht ohne. Hätten die mich berührt, könnt ich hier wahrscheinlich nicht mehr mitschreiben.

    Von den insgesamt 33 (also incl. Landstraße) mit überholenden LKW von mir seit 1/2013 gezählten tödlich verunglückten Radlern waren in 18 Fällen Lieferwagen aus der Sprinter-Klasse der Gegner, und bei einem signifikanten Teil der verbleibenden 15 Fällen handelte es sich um eher schlanke Pritschenwagen, die man gemeinhin auch nicht unbedingt zu den "Lastzügen" rechnen würde.

    Hinzu kommt, dass -wie das auch bei PKW-Unfällen vom Ramm-/Streif-Typ der Fall ist- zumeist der Crash durch flächiges Rammen, also offensichtlich vollständiges Übersehen ohne auch nur andeutungsweises Ausscheren, passierte. Die Zahl der LKW, die Radfahrer seit Anfang 2013 bis heute einfach so beim Überholen in geschlossenen Ortschaften getötet haben, beträgt meiner Zählweise nach 1. Und selbst dann, wenn man da noch alle in Frage kommenden Fälle mit unklarem Hergang bzw. solche einschließt, wo der Radfahrer offenbar selber während des Überholens nach links geraten ist, sind es definitiv nicht mehr als insgesamt 10 solcher Todesfälle innerorts (macht je nach Zählung im Mittel 0,2 bis 2 Tote jährlich...).

    Das von dir angedeutete Szenario ist in den Radfahrer-(und ebenso Behörden-)Köpfen zwar sehr dominierend präsent, aber im Verhältnis zu den Klagen darüber gesehen ist es denn doch irrelevant selten.

  • Aus den hier erhobenen Daten kann man überhaupt gar keine Rückschlüsse ziehen. Ich möchte aber trotzdem meinen Senf dazu geben:

    Ich fahre immer so weit links, dass ich sicher fahre. Das heißt, dass ich abschnittsweise mittig fahre. Je nach Fahrbahn aber gerade so weit rechts von der Mitte, dass es nicht nach mittig aussieht, aber den gleichen Effekt hat (unsicheres Überholen verhindern).

    Meine Beobachtungen mit Leuten, die so weit rechts wie möglich fahren (ist natürlich immer die Frage, was maximal geht, aber ich meine so weit rechts, dass sie in der Lage sind ihr Fahrrad sicher zu führen und alles andere vernachlässigt wird):

    Autos überholen dann in der Spur mit wenig Abstand und daher gibt es in Summe mehr Überholmanöver ohne ausreichenden Abstand. Da würde dann schon ein kleiner Schlenker mit dem Lenker reichen zur Berührung und deswegen kann ich mir für die meisten innerstädtischen Szenarien nicht vorstellen, dass es sicherer sein soll diese Überholvorgänge zuzulassen. (Das Fahren in der Dooringzone kommt dann noch oben drauf.)

    Berührungen beim Überholen: 0

    Da hier so munter über Gründe und Ursachen spekuliert wird: Ich denke, dass zum einen meine Fahrweise dazu beiträgt (und die ist nicht möglichst weit rechts zu fahren, sondern unsichere Überholmanöver zu unterbinden), bei blöden Manövern habe ich nach rechts noch Platz oder ich bremse einfach (z.B. bei Gelenkbussen, die zu früh nach rechts rüberziehen. Bei Rückspiegeln von Autos bringt das natürlich nichts), bestimmte Situationen versuche ich schon im Voraus zu vermeiden (z.B. bei EInfädelung auf die Fahrbahn, entweder ich fahre mittig rauf, sobald ich kann oder ich warte eben noch). Zum anderen denke ich, dass im Vergleich zu manch anderen hier nicht besonders viele km/Jahr fahre und es deswegen weniger Vorfälle gibt. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass es Strecken (und uhrzeitabhängige Verkehrsteilnehmer) gibt, die anfälliger für Berührungen sind als die, die ich alltäglich befahre.

    Ich hatte überhaupt nur eine Berührung, aber zum Glück nicht bei relevanter Geschwindigkeit. Da ist ein entgegenkommender Transporter zu uns in eine Engstelle rein anstatt in einer Lücke zu warten. Trotz Ausweichens ganz nach rechts musste ich mich mit dem Handschuh abstützen bei dem Versuch nicht umzufallen, was den Fahrer wahnsinnig aufregte (Beschädigung?). Die Beifahrerin zerrte den Mann förmlich wieder ins Auto zurück. Das Auto direkt hinter uns musste auf den Gehweg ausweichen. Das war jemand, der überhaupt kein Kfz führen dürfen sollte.

  • An 'Feindberührungen' beim Überholen kann ich mich jetzt nicht erinnern. Ich hatte aber letztes Jahr einen Spezialisten im VW-Bus, der mir in der Fahrradstraße entgegenkam, und meinte, weil auf seiner Straßenseite ein Abschleppwagen stand, hätte ich ihm meine Fahrspur zu überlassen und auf den Gehweg auszuweichen. Er: 'Hast du keinen Lenker?' Ich: 'Doch, der ist aber nicht faltbar.'

    Inzwischen würde ich solche Situationen wahrscheinlich gelassener nehmen, manche Fahrzeugführer sind halt einfach naturblöd.

  • Unbenommen. Das ändert aber nichts an meinen persönlichen Erlebnissen.

    Ich hatte ein solches Erlebnis auch bereits, konnte durch eine Vollbremsung aus der Gefahrenzone kommen. LKW mit Auflieger überholt mich auf dem Rennrad (35km/h) in Soltau auf der B3 (Schutzstreifen auf der Fahrbahn und Gehweg + Radverkehr frei). Dann kam eine Mittelinsel und der LKW war halt noch nicht an mir vorbei und ist rechts rüber gezogen, als ich noch neben dem Auflieger war. Das Manöver war nicht nur gefährlich sondern auch völlig sinnlos, da der LKW natürlich an der nächsten Kreuzung wieder vor mir stand.

    Ich bin ansonsten nicht zimperlich was Überholabstände angeht, aber das war brenzlig.

  • Der Unterschied zwischen Städten ist ziemlich groß. Ich war früher viel in Nürnberg unterwegs, da war knappes Überholen Standard und aggressives Verhalten (Beschimpfungen, Androhung von Prügeln) ca. einmal die Woche normal. Das war in der Zeit, als ich mit S-Pedelec fuhr, besonders ausgeprägt (nun, eigentlich kein Radverkehr, aus Autofahrersicht aber halt doch irgendwie). Immerhin, da kann man einfach bitten, doch bei der Polizei Anzeige zu erstatten, dafür ist das Kennzeichen doch da ...

    In Erlangen wiederum, eine Nachbarstadt mit knapp über 100.000 Einwohnern, ist das wiederum selten und mit Autofahrern wird der Verkehr so langsam schon geradezu partnerschaftlich (meine Wahrnehmung, andere behaupten anderes - vielleicht werde ich auch schon altersmilde oder bin überdurchschnittlich abgehärtet). Knappe Überholmanöver von Autofahrer sind so selten, dass ich mich dieses Jahr an keines erinnern kann. Ich habe überhaupt mehr Konflikte mit Radfahrern und Fußgängern als mit Autofahrern, obwohl ich Radwege vermeide. Einzelne extreme Verkehrsteilnehmer gibt es trotzdem, insbesondere wenn man mal einen Radweg rechts liegen lässt ... das ist aber halt nicht das prototypische versehentliche knappe Überholen, sondern Oberlehrerverhalten. Dafür bin ich 2018 zweimal mit Geisterradlern kollidiert, die um eine uneinsichtige Ecke fuhren.

  • Unabhängig von dem wenig überraschenden Fakt beim Überholen ist noch eine andere interessante Aussage enthalten:

    Zitat

    Müller hat für die Studie Gerichtsentscheidungen und Paragrafen der Straßenverkehrsordnung (StVO) gewälzt. Ergebnis: Auch an Radfahrstreifen müssen Autofahrer einen Seitenabstand von „mindestens 1,5 bis zwei Meter“ einhalten, wie beispielsweise das Brandenburgische Oberlandesgericht 2011 geurteilt hat.

    Für mich gab es bisher zumindest die Möglichkeit, dass der Überholabstand bei Radfahr- oder Schutzstreifen anders beurteilt wird.

    Edit:7

    Auch interessant:

    Zitat

    Müllers Fazit nach Studium von Urteilen und Gesetzeskommentaren: Der einzig legitime „Bedarf“ für Autofahrer besteht darin, auf schmalen Straßen mit gestrichelten Streifen dem Gegenverkehr Platz zu machen.

    Ich kannte bisher nur Urteile, die den "Bedarf" sehr weit auslegen, also jegliches Bedürfnis zur Nutzung akzeptieren. Beispielsweise das Umfahren eines Ampelstaus zum Erreichen einer freien Spur. Selbst über 100 m.

  • Juristen-logik (ohne, dass ich das abwertend meine):

    Formulierung A
    "darf nicht gefährdet werden" = ... aber behindern ist erlaubt

    Formulierung B

    "darf nicht behindert werden" = ... und erst recht nicht gefährdet

    Das ist so eine Abstufungsskala. :)

    und wenn man das einmal durchblickt hat, auch total logisch.

  • Formulierung A
    "darf nicht gefährdet werden" = ... aber behindern ist erlaubt

    Dass man andere egal womit weder gefährden noch mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindern darf, steht ja schon dick und fett in § 1. "Darf nicht gefährdet werden" bedeutet bei Verwendung in den höheren §§ der StVO wohl eher einen verschärften Nachrang im Sinne von "ist der Allerletzte, der fahren darf, wenn alle anderen Konkurrenten um den Platz auf der Straße schon lange weg sind".

  • Das ist so eine Abstufungsskala.

    Wichtig für das Verständnis finde ich auch noch die Abstufungen "muss Gefährdung/Behinderung ausschließen".

    Also abgestuft:

    - "darf xy nicht gefährden" ist die kleinste Einschränkung (z.B. Schutzstreifen)

    - "darf xy nicht behindern" ist schärfer (z.B. Behinderung des Überholten beim Überholen)

    - dann kommt "Gefährung muss ausgeschlossen sein" (z.B. rückwärts fahren)

    - Und das Schärfste: "Behinderung muss ausgeschlossen sein" (z.B. Abbiegen bei rot und grünem Pfeil oder Behinderung des Gegenverkehrs beim Überholen)

    In der Praxis gibt es sicherlich auch Situationen, in denen die Hierarchie zwischen den mittleren beiden nicht so eindeutig ist.

  • "Darf nicht gefährdet werden" bedeutet bei Verwendung in den höheren §§ der StVO wohl eher einen verschärften Nachrang im Sinne von "ist der Allerletzte, der fahren darf, wenn alle anderen Konkurrenten um den Platz auf der Straße schon lange weg sind".

    Nach einigem Grübeln habe ich eine Situation gefunden, in der die Nicht-gefährden-Regelung auf einem Schutzstreifen relevant ist.

    Ein Rechtsabbieger, der beim abbiegen nicht anhält, braucht normalerweise nicht damit zu rechnen, dass er von einem Radfahrer auf der Fahrbahn rechts überholt wird. Denn sowohl mit als auch ohne Schutzstreifen ist es verboten.

    Durch das explizite Verbot der Gefährdung wird ihm aber trotzdem eine zusätzliche Sorgfaltspflicht auferlegt, die sich bestimmt auch auf die Schuldverteilung bei einem Unfall auswirkt.