Woche 5 vom 30. Januar bis zum 5. Februar 2017

  • Der kleine Bruder und die Begleitperson haben sowieso keine Vorfahrt, da sie an Kreuzungen absteigen müssen.
    Aber auf mich sollte man in diesem Fall wahrscheinlich sowieso nicht hören. Ich finde ja auch nach wie vor, dass Geisterradler eigentlich grundsätzlich keine Vorfahrt vor irgendwas haben sollten.

    Also ein ganz klein wenig liest sich die Geschichte so, als ob die Urteile ohne zahlende Haftpflichtversicherung des Jungen anders ausgefallen wäre.

    Mit seiner Berufung verfolgt der inzwischen volljährige Beklagte seine ursprünglichen Anträge auf Klageabweisung aus erster Instanz weiter. Er ist weiterhin der Ansicht, er hafte der Klägerin nicht auf Schadensersatz und Schmerzensgeld, weil der Unfall allein, oder jedenfalls ganz überwiegend, von der Klägerin verschuldet worden sei. Er habe auf dem Gehweg der M‘er Straße die Einmündung der K-straße noch vor der von links herannahenden Klägerin passieren wollen, was ohne Probleme möglich gewesen sei. Nur wegen eines aus der gleichen Richtung schnell herannahenden PKW habe er im Einmündungsbereich anhalten müssen. Die Klägerin sei infolge Unaufmerksamkeit und weil – unstreitig - die Vorderradbremse ihres Fahrrades ohne Funktion gewesen sei, in sein querendes Rad gefahren.

    ...

    Die so erfolgte Benutzung des Gehweges vermittelte dem Beklagten gegenüber der sich auf der Fahrbahn der untergeordneten K-straße auf den Einmündungsbereich zufahrenden Klägerin kein Vorfahrtsrecht (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 8 Rn. 30 m.w.N.). Die sich daraus ergebende grundsätzliche Haftung des Beklagten hat der hinter diesem stehende Haftpflichtversicherer vorprozessual anerkannt.
    ...
    Ungeachtet dessen ist nach den den Senat gem. § 529 ZPO grundsätzlich bindenden tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts davon auszugehen, dass der Beklagte die K-straße hat überqueren wollen, ohne zuvor anzuhalten und sich davon zu vergewissern, dass dies gefahrlos möglich war. Hierbei konnte sich das Landgericht auf die Angaben des Beklagten im Rahmen seiner persönlichen Anhörung stützen, die im Widerspruch zu dem schriftsätzlichen Vorbringen standen, wonach der Beklagte sein Fahrrad vor dem Einmündungsbereich angehalten und sich davon überzeugt habe, dass er die Straße gefahrlos überqueren könne. Die erneute Präsentation dieses widerlegten Geschehensablaufs mit der Berufungsbegründung steht weiterhin im Widerspruch zu den Angaben des Beklagten im Rahmen seiner Anhörung, von denen der Beklagte nicht behauptet, dass und aus welchen Gründen diese unzutreffend gewesen sein sollen.
    Mit dem Landgericht hält auch der Senat die Behauptung des Beklagten, er habe im Straßentrichter angehalten, um ein sich von links schnell näherndes Fahrzeug passieren zu lassen, für nicht glaubhaft. Unabhängig davon, dass dieser Verlauf nicht bewiesen ist, entlastete dies den Beklagten nicht. Denn er hätte sich so verhalten müssen, dass er sich zuverlässig über herannahenden Verkehr auf der K-straße einen Überblick verschaffen konnte. Keinesfalls durfte er seine Fahrt fortsetzen, um dann erkennen zu müssen, dass er die Straße vor dem herannahenden PKW nicht würde überqueren können, und durch den Halt ein quer gestelltes Hindernis für den Verkehr auf der K-straße bildete.
    Der im Unfallzeitpunkt 11jährige Beklagte ist für sein Fehlverhalten auch verantwortlich.

    Gemäß § 828 Abs. 3 BGB ist derjenige, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach Absatz 1 oder 2 ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat. Dabei obliegt es dem Beklagten darzulegen und zu beweisen, dass ihm die erforderliche Einsicht zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit gefehlt hat. Substantiierten Sachvortrag hierzu enthält auch die Berufungsbegründung nicht. Im Gegenteil: die Beschreibung der Annäherung an die Einmündung, nämlich die Beachtung des sich auf der Fahrbahn befindlichen bevorrechtigten Verkehrs, belegt, dass der Beklagte damals bereits erkannt hat, dass er die Einmündung nur queren durfte, wenn er sich zuvor über die Verkehrssituation ein Bild gemacht hatte. Diese war vorliegend auch nicht so komplex und unübersichtlich, dass der Beklagte damit überfordert gewesen wäre.
    ...
    Die Haftung des Beklagten war daher nur dann beschränkt, wenn der Klägerin ein schuldhafter Verkehrsverstoß nachgewiesen werden könnte, der ein Mitverschulden begründete. In Betracht kommt nach der Darstellung des Beklagten allein, dass die Klägerin auf das auf der Fahrbahn zum Stehen gebrachte Fahrrad des Beklagten schuldhaft zu spät reagiert hat. Mangels der erforderlichen Anknüpfungstatsachen ist auch mit Hilfe eines verkehrsanalytischen Sachverständigengutachtens nicht der Beweis zu führen, dass die Klägerin verspätet reagiert haben muss, und sie bei rechtzeitiger Reaktion die Kollision hätte vermeiden können. Dazu hätte es über die aus der Unfallskizze ersichtlichen Endlage der Fahrräder hinaus insbesondere belastbarer Angaben zu den gefahrenen Geschwindigkeiten und den Entfernungen bedurft. Solche Angaben fehlen. Der Mitverschuldensvorwurf lässt sich auch nicht damit begründen, dass das von der Klägerin benutzte Fahrrad nicht über eine funktionstüchtige Vorderradbremse verfügte. Mangels entsprechender Anknüpfungstatsachen kann der Beklagte nicht den ihm obliegenden Beweis führen, dass mit einsatzfähiger Vorderradbremse der Unfall vermieden worden wäre. In diesem Zusammenhang ist ohne Belang, wer wem in das Fahrrad gefahren ist.

  • Es gibt eben auch den Eventualvorsatz (bedingter Vorsatz). Nur wieso wird er selbst in solch einem Fall verneint? Er fuhr ja nicht zum ersten mal in der Stadt viel zu schnell. Wikipedia schreibt hierzu:
    "Oft trifft man aber auf die Konstellation, dass ein Täter den Erfolg eigentlich gar nicht will, ihn aber als – möglicherweise sogar unerwünschte – Nebenwirkung seiner Handlung in Kauf nimmt. Dieses Inkaufnehmen der Verwirklichung des tatbestandlichen Erfolges wird Eventualvorsatz genannt. Allgemein herrscht Einigkeit, dass für die Strafbarkeit einer Tat Eventualvorsatz genügt."

    Gibt aber auch erfreuliche Neuigkeiten. Soest lässt sich nicht vom Verkehrsministerium verar... veräppeln. Die Jakobistraße wird auch nach der Umgestaltung für Radfahrer sicher bleiben.

  • Nur wieso wird er selbst in solch einem Fall verneint?

    Laut Wikipedia ist zwischen zwei Gedanken zu unterscheiden:
    "Ups, ganz schön schnell - geht aber bestimmt gut!" und "Ups, ganz schön schnell - wenn es knallt, dann knallt es halt".
    Ersteres ist bewusst fahrlässig, letzteres Eventualvorsatz.
    Der Gedankengang "wenn es knallt, dann knallt es halt" ist sowieso nur schwer nachzuweisen. Außerdem ist er mMn aufgrund der Selbstgefährdung auch tatsächlich nur selten vorhanden. Viel wahrscheinlicher ist der überhebliche Gedanke "Mir passiert sowas nicht!". Und das ist halt nur fahrlässig.

  • Außerdem ist er mMn aufgrund der Selbstgefährdung auch tatsächlich nur selten vorhanden.

    Der Täter des konkreten Falles war auf einem Motorrad unterwegs. Da dürfte die Selbstgefährdung in der Tat relativ hoch sein. Bei einem Täter in einem 2,5-Tonnen-Blechpanzer, umgeben von Airbags, könne man zu einem anderen Urteil kommen.

  • Und noch ein Nachtrag:

    Aber da war auch "Alpi". Mehr als 80.000 Abonnenten verfolgten die Videos seiner Raser-Eskapaden; Werbung brachte T. im ersten Halbjahr 2016 rund 2200 Euro ein. Die Fans liebten die halsbrecherischen Fahrten, innerorts beschleunigte "Alpi" auf mehr als Tempo 170, fuhr zwischen Straßenbahnen, über Gehwege, ignorierte rote Ampeln, forderte andere zu Rennen heraus.
    In den Videos war er alles andere als zurückhaltend und schüchtern. Nach einem Beinahe-Unfall beschimpfte er einen Fußgänger: "Ist der behindert? Was war das? Behinderter Hurensohn! Er bleibt stehen, wie ein Reh! Er wäre gestorben. Ich hätte ihn in seine Einzelteile zerlegt, wie mein Lego. Voll der behinderte Wichser!" Vor allem den Angehörigen des Todesopfers dürfte es schwerfallen, in diesen Worten wie die Kammer eine "emotionale Verarbeitung" zu erkennen.

  • Noch ein paar weitere Details finden sich auf Spiegel.de.
    Erstmal hatte der Typ für die Maschine keinen Führerschein. Ob es da etwas bringt, ihm den Führerschein auf vier Jahre zu entziehen?

    Interessant noch die Bewertung seiner Äußerungen in einem anderen Video, als er fast einen Fußgänger überfahren hätte:
    "Ist der behindert? Was war das? Behinderter Hurensohn! Er bleibt stehen, wie ein Reh! Er wäre gestorben. Ich hätte ihn in seine Einzelteile zerlegt, wie mein Lego. Voll der behinderte Wichser!"

    Das Gericht sah das wohl als "emotionale Verarbeitung" und nicht als Indiz für bedingten Vorsatz.

    Hmm....

    Bin gespannt, was bei dem ähnlichen Prozess in Berlin rauskommt. Im Gegensatz zum Prozess hier hatte der Verursacher des Unfalls in Berlin rot.

  • Vor allem den Angehörigen des Todesopfers dürfte es schwerfallen, in diesen Worten wie die Kammer eine "emotionale Verarbeitung" zu erkennen.

    Ich behaupte jetzt einfach mal, dass es den Angehörigen immer schwer fällt eine ruhige Verarbeitung zu schaffen. Das ist normal. Deswegen gibt es ja einen neutralen Richter. Im oben beschriebenen Fall fällt es mir auch schwer. Andererseits, ja .. so etwas zeigt, dass sich der Fahrer zumindest mit dem Fall beschäftigt. Eine ruhige "oh mei - den hätte ich töten können" Verarbeitung sehe ich noch nicht sofort. Andererseits ist es mehr als ein "Der hätte es verdient" oder so.

    Als direkt Betroffener (bei Unfällen meiner selbst oder der Familie) wünsche ich mir typischerweise die Todesstrafe. Im Idealfall qualvoll und langsam. Bei Anderen wünsche ich mir eine menschliche Behandlung und vor allem nie eine falsche Bestrafung Unschuldiger. Und diese beiden Grunsätze sollen bitte vereint werden.

    Und jetzt mal ehrlich .. da finde ich immer noch, das europäische Gerichte im Normalfall einen besseren Weg finden als manch anderer Staat ( , oder oder ). Ja, vieles läuft nicht so, wie ich mir das wünsche. Dennoch finde ich den Schutz Unschuldiger und die Rehabilitation höhere Güter als es hier (vor allem in Fällen ausfälliger Autofahrer) gerne gefordert wird.


    Und so richtig verstehe ich die "emotionale Verarbeitung" immer noch nicht.. der Sausack gehört Jahrzenhte hinter Gitter...

  • Haftstrafe ohne Bewährung ist schon mal gut. Auch, wenn zu erwarten ist, dass er sie nicht voll absitzen muss, sondern wenigstens ein Jahr vorher gegen Auflagen auf freien Fuß kommt.
    Nicht vergessen, in unserer Justiz geht es nicht vordergründig um Strafe. Es geht darum, so auf den Sünder einzuwirken, dass er in Zukunft nicht mehr sündigt. Für jemanden, der vorher nie im Knast war, ist ein auch nur mehrmonatiger Haftaufehnthalt mit Sicherheit etwas, was er in Zukunft vermeiden will.
    Gleichzeitig muss man darauf achten, dass der Sünder nach der Haft noch eine Lebensperspektive hat. Was nutzt es, einen sozial so zu zerstören, dass er in Zukunft entweder nur noch der Gesellschaft auf der Tasche liegt, weil er keinen Job findet, oder aus dem gleichen Grund Berufskrimineller wird?

    Daher ein solches Strafmaß.
    Aus Sicht der Gesellschaft angemessen, aus Sicht der Angehörigen sicher zu milde. Das ist ein Zielkonflikt, bei dem die Angehörigen regelmäßig den Kürzeren ziehen. Zum Wohle aller.

    Wenn man dem Fahrer die vorherigen Schnellfahrten vorwirft, kommt bei mir die Frage auf, warum man diese nicht vorher sanktioniert hat. Entweder man kann sie dem Angeklagten einwandfrei zuordnen, dann hätte man viel früher einschreiten müssen. Oder man kann sie eben nicht sicher zuordnen, dann spielen sie für das Strafmaß keine Rolle.

    Die weitergehende Entziehung der FE und die Sperre, vor Ablauf von 4 Jahren eine neue zu beantragen, wirkt sich nicht nur auf das Fahren eines Motorrades aus. Er darf nix mehr fahren, was schneller ist als ein Mofa, bis die Sperrzeit abgelaufen ist.
    Sicher könnte er auch in Zukunft KFZ fahren, für die er keine FE hat. Aber das Risiko, auch ohne Unfall damit erwischt zu werden, ist gestiegen, und die Folgen wären höher also vor dem Urteil. Eskalation der Sanktion und so.

    bye
    Explosiv smilie_be_131.gif

  • Ich hoffe mal, dass er bei Beantragung einer neuen Fahrerlaubnis nach der Sperre erstmal durch die MPU muss. Die sollte er aufgrund offensichtlicher charakterlicher Mängel nicht bestehen können.

    Solange Dummheit als plausible Erklärung ausreicht, sollte man keinen Vorsatz annehmen.

  • Damit wäre ich jetzt nicht mehr einverstanden, Gerhart. Ist nicht das Ziel der Strafe, dass eben auch ein Umdenkprozess stattfinden kann. Von daher ja zur MPU, aber nein zum voreingenommenen "Die sollte er eh nicht bestehen können". In ein paar Jahren mag das völlig anders aus sehen.

  • Ist ja auch echt ’n Witz, diese Kreuzung. Dort fühlen sich offenbar auch andauernd Kraftfahrer dazu animiert, bei grünem Licht mit Vollgas abzubiegen.

    "übersah offenbar die Schülergruppe"
    :cursing:

    Da werden schon wieder Ausreden und Entschuldigungen für den Fahrer generiert, obwohl der noch flüchtig ist und es höchstens die Zeugenaussagen der Schüler gibt.

    Naja, es steht ja immerhin „offenbar“ dort.