Ullie : Haben Sie wirklich gerade gefordert, dass die Politik sich über die Wissenschaft hinwegsetzen soll? Und dabei den eigenen Gedanken folgen? Welche automatisch aus irgendwelchen Gründen besser sind als die Wissenschaft?
Da überinterpretieren Sie aber gewaltig, das was ich gesagt habe.
Sie tun ja gerade so als hätte ich gesagt, dass Politiker sich grundsätzlich niemals mit dem beschäftigen sollten, was Wissenschaftler erforscht haben. Worauf ich allerdings hingewiesen habe: Politiker müssen oft Entscheidungen treffen obwohl ihnen manchmal sehr gegensätzliche Forschungsergebnisse vorliegen oder eben keine eindeutigen Ergebnisse vorliegen.
Und als Beispiel habe ich die Entscheidung über ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen angeführt.
"Der DVR plädiert demnach für ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern. Der neuen Positionierung des Vorstands war nach Auskunft einer Sprecherin zahlreiche Expertenanhörungen und eine lange, kontroverse Debatte vorausgegangen, die ein Jahr lang dauerte."
Deutscher Verkehrssicherheitsrat, 12.5.2020
Die Entscheidung, ob ein generelles Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen gelten soll, kann trotz vorliegender Forschungsergebnisse nur das gewählte Parlament treffen und die von den Parlamenten gewählte Regierung umsetzen. Und wenn das geschehen ist, bleibt noch die Hürde, ob damit eine gerichtsfeste Entscheidung getroffen wurde.
Deshalb ist es ein wenig "drollig", dass die Bundestagsfraktion der Grünen sich zu diesem Thema auf ihrer Internetseite so positioniert:
"Es gibt keinen rationalen Grund für Deutschland, die Einführung von Sicherheitstempo 130 km/h auf allen Autobahnen weiter aufzuschieben."
https://www.gruene-bundestag.de/themen/mobilit…llen-autobahnen
Oder können Sie nachvollziehen, mit welcher "Wissenschaftlichkeit" die Grünen hier argumentieren? Sie argumentieren in jedem Fall "wisssenschaftlich": "Es gibt keinen rationalen Grund..." ist eine eindeutige Formulierung mit der Wissenschaftlichkeit signalisiert werden soll.
Aber warum dann Tempo 130 km/h?
"Als wegen der Ölkrise im Winter 1973/74 ein generelles Tempolimit von 100 km/h galt, halbierte sich die Zahl der Verunglückten laut Umweltbundesamt. Das hat sich in Hessen bestätigt, wo zwischen 1984 und 1987 auf einigen Autobahnen Tempo 100 galt und die Anzahl der Unfälle mit Toten oder Schwerverletzten im Verhältnis zum Verkehrsaufkommen je nach Strecke um etwa 25 bis 50 Prozent zurückging."
Die Zeit vom 17.7.2020: "Tempolimit - Weniger CO2 und weniger Unfälle"
https://www.zeit.de/mobilitaet/202…kehrssicherheit
Nicht zuletzt aufgrund dieser wissenschaftlichen Untersuchungen auf den hessischen Autobahnen ist es sicher zulässig, wenn die Grünen verkündeten:
"Es gibt keinen rationalen Grund für Deutschland, die Einführung von Sicherheitstempo 100 km/h auf allen Autobahnen weiter aufzuschieben."
Oder sehen Sie, Nbgradler, doch einen rationalen, also einen naturwissenschaftlich fundierten Grund, der dem widerspricht, Tempo 100 als generell gültiges "Sicherheitstempo" anzustreben?
Wäre es darüber hinaus nicht ehrlicher, wenn die Grüne sagten: Um die Zahl der Verkehrsunfälle und die Zahl der Verkehrstoten und Verletzten deutlich zu reduzieren, setzen wir uns dafür ein, dass die Einführung von Sicherheitstempo 100 km/h auf allen Autobahnen nicht weiter aufgeschoben wird?
Ullie :
Und dann im nächsten Satz einen überzeugten "eigene Gedanken" Politiker wie Hitler aufgeführt, ohne auf Ihren eigenen Widerspruch in der Argumentation zu stoßen?
Da unterschätzen Sie Hitler aber gründlich, wenn sie ihn als "eigenen Gedanken-Politiker" bezeichnen. Hitlers Gefährlichkeit erwuchs nicht zuletzt daraus, dass er es geschickt verstanden hat, wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Entwicklungen geschickt für seine Interessen einzusetzen und Wissenschaftler für seine Ideologie zu instrumentalisieren.
Massenkundgebungen mit Lautsprecheranlagen.
Übertragung und Weiterverbreitung mit Rundfunk und Film. (Später auch das Fernsehen!)
1936 wurden die ersten Fernsehsendungen in Deutschland ausgestrahlt, mit Übertragungen von Sportwettkämpfen der Olympischen Spiele.
Architektur-Projekte auf bautechnisch hohem Niveau. etc., etc.
Und viele Wissenschaftler sind Hitler treu ergeben gewesen oder haben sich zumindest darauf eingelassen, seinen Machtapparat und seine Diktatur in Deutschland zu stärken. Das sind gute Gründe, wissenschaftlichen Erkenntnissen auch heute noch, genügend kritisch gegenüberzustehen.