Hannover wird "autofrei"

  • Die Pläne für ein autofreies Hannover sehen vor, dass weiterhin jeder, der das will, mit dem Auto in die Stadt fahren kann.

    Hört sich widersprüchlich an, ist aber angesichts der Schärfe, mit der manche Medien, die sich den Autofahrern besonders verbunden fühlen, die "Autofrei"-Pläne kommentieren, verständlich:

    "Es ist nicht so, dass das Thema "autofreie Zonen" das ganz große Erfolgsrezept gewesen wäre für ehrgeizige Kommunalpolitiker.

    Eher im Gegenteil. Kommunale Entscheidungsträger, die für das weitgehende Zurückdrängen des individuellen Autoverkehrs in ihren Städten gestritten haben, erlitten zuletzt in der Regel Schiffbruch.

    Die Grünen in Bremen und in Berlin wurden bei den Wahlen zu Bürgerschaft und Abgeordnetenhaus abgestraft für ihre wenig autofreundlichen Pläne und Entscheidungen." Das schreibt z. B. Die Welt vom 20.9.23 unter dem irreführenden Titel: ""Kein Auto zu viel" - so plant ein grüner Oberbürgermeister die radikale Verbannung"

    Die MOPO ebenfalls vom 20.9.23 titelt gar: "Verkehrswende: Hannovers knallharter Anti-Auto-Plan"

    Bis zur nächsten Kommunalwahl in Hannover ist es allerdings noch drei Jahre hin. Und wenn die Bürger*innen erst mal feststellen, dass die autofreie Innenstadt nicht die von vielen Kritikern an die Wand gemalte "Geister-Innenstadt" bedeutet, dann könnte es funktionieren.

    Aber kann man überhaupt von "autofrei" sprechen, wenn es weiterhin möglich ist, dass jeder mit dem Auto in die Stadt fahren kann?

    Immerhin:

    Es soll keine Parkflächen mehr im öffentlichen Straßenraum geben.

    Abgesehen von Lieferfahrzeug-Stellplätzen und Behindertenparkplätzen dürfen Besucher ausschließlich nur noch in Parkhäusern parken. Die Kapazitäten dafür sind reichlich vorhanden. Standen doch in den vergangenen Jahren (auch vor Corona) mehr als die Hälfte der Stellflächen in den Parkhäusern leer und selbst an einkaufsstarken Tagen, gab es immer noch reichlich freie Parkhaus-Stellplätze, wenn auch nicht immer im erstbesten.

    Und um Suchverkehr zu vermeiden ist die Einfahrt in die Parkhäuser entsprechend einem Taschenkonzept so geregelt, dass die Einfahrt und Ausfahrt nur von einer Stelle vom inneren City-Ring aus erfolgt. Mit Hilfe des bereits bestehenden Parkleitsystems kein Problem.

    "Am 29. September werden Oberbürgermeister Onay und Stadtbaurat Thomas Vielhaber (SPD) ab 17:30 Uhr die Planungen im Veranstaltungsort Aufhof der Öffentlichkeit vorstellen. Die Präsentation wird auch live im Internet übertragen." NDR vom 19.9.23 https://www.ndr.de/nachrichten/ni…konzept122.html

    Der Ort "Aufhof" ist bezeichnend, denn es handelt sich um das leerstehende ehemalige Kaufhof-Gebäude, dass zur Zeit für verschiedene kulturelle Zwecke nachgenutzt wird. Trotz des zahlreichen Autoverkehrs oder gerade deswegen musste Kaufhof vor rund einem Jahr an dieser Stelle (neben der Marktkirche) schließen.

    Hier die Einladung auf hannover.de:

    "Oberbürgermeister Belit Onay und Stadtbaurat Thomas Vielhaber stellen die Pläne am 29. September 2023 ab 17:30 Uhr im Aufhof vor. Alle Bürger*innen sind herzlich eingeladen sich im Rahmen der Veranstaltung einzubringen oder sich über den Livestream zuzuschalten."

    Stadt Hannover legt Plan für Mobilitätswende in der Innenstadt vor

  • Normalerweise ist es ja so, dass in Politik und Verwaltung Unkenntnis über Recht und Gesetz besteht. Hier scheint es aber so zu sein, dass man gar nicht weiß, dass es Recht und Gesetz überhaupt gibt.

    Man darf gespannt sein.

    Ich vermute mal, dass ist eine dieser Aktionen, mit denen man den Wähler zur AFD treiben will.

  • Das Problem ist ja auch, dass es von den Städten als "Anti-Auto" verkauft wird – auch weil es genau das ist, dass viele der unmittelbar Betroffenen fordern: Die Leute, die direkt in der Innenstadt leben, besitzen (!) zu teilweise 90% gar kein Auto und zwar unabhängig davon, wie gut sie noch zu Fuß sind. Entsprechend wird selbst "Anliegern die Zufahrt erlauben" als Minderheiten-Interesse empfunden. Und die Auswärtigen? Die können auch einfach zu Hause bleiben – zumindest aber deren Autos. Wenn deswegen ein Laden Pleite geht, kann man ja Wohnraum draus machen; davon brauchen die Städter nämlich mehr und nicht Parkplätze (und irgendwann auch nicht mehr das 276ste Café…).

    Und am anderen Ende hast du die Leute vom Lande, die gewohnt sind, dass man immer überall direkt vor der Tür parken kann. Begriffe wie "Stau" oder "Parkplatzmangel" kennt man aus dem eigenen Leben überhaupt nicht – man ist schließlich extra auf's Land gezogen, um keinen Verkehr zu haben. Und wenn man dann in die Stadt fährt, erwartet man, dass sich dort alles dem eigenen Lebensstil unterordnet – und zwar bitte mindestens kostenlos.

  • Das Problem ist ja auch, dass es von den Städten als "Anti-Auto" verkauft wird ...

    Wer verkauft hier was als "Anti-Auto"?

    Fakt ist, dass es für Politik und Verwaltung außerordentlich schwer ist, auch nur irgendeine kleine Veränderung der Verkehrsinfrastruktur einen Namen zu geben, der nicht sofort erhebliche Proteste hervorruft, wenn dabei auch nur ein einziger Autostellplatz verschwindet.

    Selbst wenn z. B. durch Baumpflanzungen auch nur eine kleine Anzahl Parkplätze zurückgebaut werden, dann hagelt es schärfste Proteste von Seiten der Autobesitzer, von denen viele meinen, mit dem Kauf eines Fahrzeuges haben sie gleichzeitig ein Grundrecht auf einen kostenfreien Stellplatz direkt vor der Haustür erworben. Begrünung der Innenstadt wird von der Autolobby sofort so "dechiffriert": Hier sollen Parkplätze vernichtet werden. Verbesserungen für den Fahrradverkehr, den Fußverkehr und den ÖPNV wird von den einschlägigen Lobbyverbänden sofort eingeordnet als Ideologie-getriebene "Anti-Autopolitik". Und angebliche "Beweise" sind schnell erbracht: Wegfall eines Parkplatzes oder Verschmälern einer Auto-Fahrspur zugunsten breiterer Radwege, ein Buskap an Stelle einer Haltebucht, und sofort geht das Gekeife los.

    In Hannovers letztem Kommunalwahlkampf wurde keine Gelegenheit ausgelassen, den Kandidaten ein Bekenntnis zur autofreien Stadt abzuringen. Ich habe keine einzige Podiumsdiskussion zur Kommunalwahl erlebt, bei der es Kandidaten, egal welcher Partei, es gewagt hätten, ein Bekenntnis zur autofreien Stadt abzugeben. Allenfalls "autoarm" wurde als Ziel ausgegeben. Und das auch nur, weil man die Wählerinnen und Wähler nicht verlieren wollte, die sich sehr gut eine autofreie Stadt vorstellen können und gerne darin leben würden.

    "Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) hat erstmals konkrete Pläne für eine weitgehend autofreie Innenstadt vorgelegt. In den kommenden Jahren will die Stadtverwaltung nach und nach die meisten ebenerdigen Parkplätze auflösen. Wer mit dem Auto in die Innenstadt kommt, wird nach dem jetzt vorgestellten Mobilitätskonzept direkt in die Parkhäuser geleitet. Dort stehen 10.000 Stellplätze zur Verfügung. "Bisher sind alle Parkhäuser in der Innenstadt durchschnittlich nur zu 50 Prozent ausgelastet. Wer mit dem Auto nach Hannover kommt, wird also auch in Zukunft zentral in der City parken können", so Onay." ZDF vom 21.9.23 https://www.ndr.de/nachrichten/ni…konzept122.html

    Solche Zuschreibungen wie "autofrei" gehen stets auf die Medien zurück, die damit versuchen jeglichen Wandel in der Verkehrspolitik weg vom Auto zu sabotieren. So auch jetzt wieder, denn es stehen 10.000 Stellplätze in Parkhäusern zur Verfügung. Wie passt das zusammen mit einer angeblich "autofreien" Innenstadt?

    Die Leute, die direkt in der Innenstadt leben, besitzen (!) zu teilweise 90% gar kein Auto ...

    Das entspricht schlicht nicht der Realität:

    Die Stadtteile mit der geringsten Dichte an privaten Pkw sind die Nordstadt (213), Linden-Süd (215),

    Linden-Nord (224) und die Calenberger Neustadt (228). Bei allen handelt es sich um innenstadtnahe

    Gebiete, wo die Notwendigkeit zu individueller Mobilität aufgrund kurzer Wege und guter Anbindung an

    den ÖPNV weniger gegeben ist. Das sind immer noch deutlich mehr als wie von dir vermutet 10%. Und dabei muss weiterhin berücksichtigt werden, dass der Anteil der Menschen, die in einem Haushalt leben, in denen ihnen nach Absprache mit den anderen Mitgliedern des Haushaltes ein Auto zur Verfügung steht, noch einmal deutlich höher ist als 20-30%.

    Will heißen: Auch in innenstadtnahen Stadtteilen oder direkt in der Innenstadt ist "autofrei" für viele Menschen ein "Reizwort". Der Bürgermeister oder der Stadtrat werden aber nicht alleine von den Innenstadtbewohnern gewählt oder den Bewohnern der innenstadtnahen Stadtteile.

    "Isernhagen-Süd und Wülferode führen die Liste mit 597 bzw. 583 private Pkw je 1.000 Einwohner*innen deutlich an und liegen mit diesen Werten auch deutlich vor den folgenden (Seelhorst, Bothfeld und Lahe) mit 472, 458 und 456 private Pkw je 1.000 Einwohner*innen." Und die vielen Menschen in innenstadtfernen Stadtteilen sind ebenfalls Wähler, deren irrationalen Ängste und Verstocktheit gegenüber einer autofreien Mobilität im erheblichen Maß dazu beitragen, dass es so schwierig ist, die dringend notwendige Verkehrswende herbeizuführen.

    Zahlen zum privaten Autobesitz aus:

    https://e-government.hannover-stadt.de/lhhsimwebdd.nsf/8D7FE777D44EF3C0C12586A0004611D5/$FILE/0669-2021_Anlage1.pdf

    2 Mal editiert, zuletzt von Ullie (22. September 2023 um 11:42) aus folgendem Grund: Fehlerkorrektur

  • Das ist das, was Belit Onay in seinem Mobilitätskonzept bei seiner OB-Kandidatur im Herbst 2019 angekündigt hat:

    "Autofreie Innenstadt bis 2030

    Innerhalb des Cityrings soll es keinen Autoverkehr mehr geben, Ausnahmen: Anwohner und Lieferverkehr und die Anfahrt zu einzelnen Parkhäusern bleiben frei."

    https://www.belit-onay.de/fileadmin/user_upload/Belit-Onay-Mobilitaetskonzept_190905.pdf

    Ich habe damals bei Wahlveranstaltungen versucht, auf den Widerspruch hinzuweisen. (Autofrei mit tausend Ausnahmen.)

    Das sei ja nur ein Wahlprogramm, da schreibt man auch mal ein Reizwort hinein, aber in der Kommunikation nach draußen, sei ja klar, dass das mit dem "autofrei" nicht allzu wörtlich genommen werden dürfe und vor allem deshalb drin stehen würde, dass man ein Unterscheidungsmerkmal zu anderen Parteien habe.

    Und ja, genau so ist es auch. Denn der jetzt verfolgte Ansatz beinhaltet, dass es keine Parkplätze mehr für Privat-KFZ mehr geben wird in der Innenstadt mit Ausnahme von Lieferstellplätzen und Stellplätzen für Menschen mit Behinderung und Stellplätzen auf Privatgrundstücken, sowie rund 10.000 Stellplätze in Parkhäusern. Und so weit zu gehen, damit tut sich zum Beispiel der Koalitionspartner im Rat der Stadt, die SPD, schwer. Und Parteien wie der CDU und der FDP geht das zu weit.

    Und weil es so gut passt, dieser Absatz aus einem aktuellen taz-Artikel:

    "„Nahezu autofrei“ heißt das Konzept aber auch, weil es natürlich ein halbes dutzend Ausnahmen gibt: Für Lieferverkehr, für Mobilitätseingeschränkte, für Anwohner und Arbeitnehmer, die private Stellplätze ansteuern – das dann aber bitte schön nur noch mit 20 bis 30 Stundenkilometern. Schneller da wären sie ja trotzdem noch, glauben Onay und sein Stadtbaurat Thomas Vielhaber (SPD), immerhin müssten sie mit weniger Autos konkurrieren.

    Überhaupt versuchen die beiden Lokalpolitiker alles, um zu verhindern, dass sich die Debatte immer wieder auf dieses „Autos – ja oder nein“ verengt, zeichnen Fußgängerrouten und ÖPNV-Netze nach, verweisen auf das im Ausbau befindliche Radwegenetz. Aber am Ende landet die Debatte trotzdem immer bei dieser Frage. Von einer „ideologisch motivierten, einseitigen Verbannung des Autos“ spricht die CDU-Opposition und wettert: „Onay setzt die Axt an die Zukunftsfähigkeit der Innenstadt“."

    Hannover will Stadt der Fußgänger werden
    Der grüne Oberbürgermeister Belit Onay will Niedersachsens Metropole „nahezu autofrei“ machen. Doch was braucht es, um eine City umzukrempeln?
    taz.de
  • Und es kam, wie es zu befürchten war: Was mühsam von der Verwaltung und dem Baudezernenten an Überzeugungsarbeit geleistet wurde, wird gerade vom Koalitionspartner SPD schlecht geredet.

    Kritikpunkte sind:

    Es hätte angeblich keine ausreichende Bürgerbeteiligung stattgefunden. Tatsächlich wird schon seit mehr als zwei Jahren mit zahlreichen Veranstaltungen in der Innenstadt eine umfangreiche Bürgerbeteiligung hergestellt. Dass nicht jeder Autofahrer glücklich darüber ist, wenn Parkflächen im Straßenraum umgewandelt werden zu Parkplätzen für behinderte Menschen oder Lieferverkehr-Stellplätzen ist nicht weiter verwunderlich.

    Angeblich würde laut SPD-Ratsfraktion die Vorrangschaltung für den ÖPNV durch den geplanten Stadtumbau gefährdet. Fakt ist, dass eine große Einigkeit darüber besteht, den Vorrang des ÖPNV noch weiter auszubauen.

    Kritik gibt es auch daran, dass der Fahrradverkehr zu sehr bevorzugt würde, was angeblich dazu beitragen würde, dass die Sicherheit von Fußgänger*innen gefährdet sei. So behauptete SPD-Fraktionschef Kehrlich am 7.11.23 in Radio Hannover: "Die Pläne des Oberbürgermeisters seien nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen interessant, kritisiert SPD-Ratsfraktions-Chef Lars Kelich. Vor allem für Menschen, die innenstadtnah wohnen oder täglich das Fahrrad nutzen." https://www.radio-hannover.de/hannover-news/…ehrskonzept-vor

    Da es sich letztlich um viel Theaterdonner handelt, weitgehend substanzlos, doch dafür um so lauter, bleibt die Hoffnung, dass es der Versuch der SPD ist, innerhalb des Rathausbündnisses die Oppositionsrolle zu übernehmen, um die eigentliche Rathausopposition auszubremsen.

    Die NP vom 5.11.23 vermutet:
    Beim Verkehrskonzept der autoarmen City geht es auch um Taktik

    "Die SPD in der Stadt erarbeitet jetzt alternative Ideen zu den Plänen von Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne). Dazu wird die Kritik an der mangelnden Einbindung der Beteiligten kritisiert. Da hat die SPD einen Punkt, meint NP-Redakteur Sönke Lill, allerdings spielt bei der Kritik auch Taktik mit.

    Schließlich ist der Baudezernent Thomas Vielhaber, der alle Pläne genau kennt und mitgestaltet hat, selbst SPD-Mitglied."

    https://www.neuepresse.de/lokales/hannov…0gehen%20weiter.

    Einmal editiert, zuletzt von Ullie (11. November 2023 um 22:02) aus folgendem Grund: Link zum NP Zitat

  • Vielen Dank für den Hinweis auf die sehr aktuelle Sendung, insbesondere bezogen auf die aktuelle Diskussion in Hannover. Bei Minute 8:00 sagt die Radverkehrsbeauftragte Lübeck, Astrid Spieler, sinngemäß, wenn es konkret wird, und zum Beispiel Parkplätze zurückgebaut werden, dann schlagen sich die Politiker in die Büsche.

    Genau das praktiziert zurzeit die SPD in Hannover (HAZ von heute, 15.11.23):

    "Die SPD bleibt dabei: Sie will in der kommenden Sitzung des Bezirksrates Südstadt-Bult am Mittwoch, 15. November, die Abschaffung mehrerer Fahrradstraßen im Bezirk beschließen. Hintergrund ist ein Streit mit der Stadt Hannover um den Wegfall von Parkplätzen. Die Stadt hält diesen Schritt für notwendig, um – einem Gerichtsurteil zur Kleefelder Straße folgend – echte Verbesserungen für Radfahrerinnen und Radfahrer in Fahrradstraßen zu schaffen. Die SPD wirft der Verwaltung vor, keine Kompromissbereitschaft gezeigt zu haben."

    Abschaffung von Fahrradstraßen in Hannovers Südstadt: Die Fronten sind verhärtet
    Am Mittwoch, 15. November, legt die SPD im Bezirksrat Südstadt-Bult ihre Anträge zur Abschaffung mehrerer Fahrradstraßen vor. Vor der Abstimmung sind die…
    www.haz.de

    Der Link zu dem Film von Autogenix hatte ich hier gefunden:

    Ich finde es ja immer wieder erstaunlich, wie ruhig der Oberbürgermeister von Hannover bleibt, wenn man ihm die absurdesten Vorwürfe an den Kopf schmeißt, z. B. wie bei Minute 0:45 in dem ein Bürger gegen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen damit argumentiert, dass ihm, Vorschriften gemacht werden würden.

  • Kuriose Stilblüten treibt die aktuelle Verkehrsdebatte in Hannover. Zu anderen Zeiten wird gerne behauptet, dass vor allem Auto-Poser von angeblich südländlicher Herkunft Schuld daran seien, dass der Autoverkehr zum Problem wird, weil sie mit ihren getunten, dicken und PS-starken Autos lautstark die Straßen unsicher machen. Die Scheiben dieser Angeber-Autos sind in der Regel allerdings getönt, sodass man oft nicht einmal ansatzweise erkennt, ob dahinter ein Blondschopf sitzt oder es Hinweise auf eine ausländische Herkunft gibt.

    Und jetzt? Der Center-Manager der Ernst-August-Galerie kritisiert den Oberbürgermeister von Hannover für seine Politik für eine autoarme Innenstadt. Schuld am Autoverkehrschaos ist jedoch das chaotische Verhalten der Autofahrer, die immer wieder die Kreuzungsbereiche blockieren, weil sie in den Kreuzungsbereich häufig auch noch bei Rot einfahren. Und natürlich trägt der viel zu hohe Autoverkehrsanteil am Modal Split Schuld an den Staus.

    Besonders perfide: In dem Flugblatt wird der Oberbürgermeister Belit Nejat Onay genannt, obwohl er in den Medien lediglich mit nur einem Vornamen genannt wird: Belit Onay. Mann muss schon googeln, um auf den zweiten Vornamen zu stoßen. Mein Eindruck: Der Center-Manager will rassistische Ressentiments gegen unseren Oberbürgermeister bedienen, weil der türkischer Abstammung ist.

    Egal was ist:

    Fahren Sie Autos, dann wird ihnen nachgesagt, die Türken seien am Autoverkehrschaos Schuld.

    Ruft ein türkisch-stämmiger Oberbürgermeister dazu auf, kein Auto zu fahren, dann ist der türkisch-stämmige Oberbürgermeister am Autoverkehrschaos schuld.

    Einmal editiert, zuletzt von Ullie (18. November 2023 um 15:32)

  • Ein etwas längeres Zitat, weil es darin um etwas Grundsätzliches geht, dass die derzeitige Debatte über Verkehrspolitik bestimmt, wenn es um den Parkplatz-Rückbau geht. Das Zitat ist aus einer pdf-Datei der Zeitschrift WZB (=Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) Mitteilungen von Dezember 2021:

    Der Laternenparker von Bremen

    Die Gesellschaft muss erstreiten, welchen Raum der Autoverkehr einnehmen soll

    von: Prof. Andreas Knie (Politikwissenschaftler)

    "Ein Bremer Kaufmann hatte seinen Kleinlastwagen, mangels eines geeigneten privaten Stellplatzes, abends und am Wochenende einfach am Straßenrand abgestellt und war deshalb mehrfach von den Bremer Ordnungskräften abgemahnt worden. Er tat es dennoch immer wieder, beendete also das nach Sicht des Bremer Senats illegale Abstellen seines Fahrzeugs keineswegs. Die Kontroverse dauerte beinahe zehn Jahre, bis schließlich das Bundesverwaltungsgericht dem Kaufmann recht gab. Es erlaubte das Parken von Autos auf öffentlichen Flächen.
    Denn nur, wenn man sein Fahrzeug überall bequem abstellen kann, ist es ja ein attraktives Fortbewegungsmittel, so die Argumentation des Gerichts. In der Urteilsbegründung des damals in Karlsruhe beheimateten Gerichts heißt es (Aktenzeichen: BVerwG IV C 2.65): „In einer stürmischen Entwicklung seit Anfang der Fünfzigerjahre ist das Automobil in der Bundesrepublik bei einem am 1. Juli 1963 erreichten Stand der Motorisierung von acht Einwohnern je Pkw und weiterer, sprunghafter Zunahme ‚zu einem Gebrauchsgegenstand aller Bevölkerungskreise geworden‘. Diese Entwicklung hat der Staat nicht nur geduldet, sondern gefördert. Schon im Vorspruch der Reichsstraßenverkehrsordnung von 1934 heißt es: ‚Die Förderung des Kraftfahrzeugs ist das Ziel, dem auch diese Ordnung dienen soll.‘
    In der Bundesgesetzgebung ist insbesondere die steuerliche Berücksichtigung der Kosten des Arbeitnehmers zur Benutzung eines eigenen Kraftfahrzeugs für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte als Werbungskosten ein allgemein bekannter Ausdruck dieser Förderung. Mit der Zunahme des Kraftfahrzeugverkehrs hat aber der Straßenbau und insbesondere der Bau von Garagen und Einstellplätzen nicht Schritt halten können, den die Reichsgaragenordnung vom 17. Februar 1939 in der Fassung vom 13. September 1944 zur Entlastung der öffentlichen Verkehrsflächen von ruhenden Kraftfahrzeugen vorsieht. Die – unausweichliche – Folge ist, dass ein großer Teil der motorisierten Verkehrsteilnehmer praktisch gezwungen ist, öffentliche Straßen zum Dauerparken als ‚Laternengarage‘ zu benutzen. Jeder Blick in die Verkehrswirklichkeit der Gemeinden in der Bundesrepublik bestätigt dies als tägliches Erfahrungsbild. Damit erweist sich das Abstellen von Kraftfahrzeugen über Nacht sowie an Sonn- und Feiertagen an öffentlichen Straßen als grundsätzlich den Verkehrsbedürfnissen entsprechend und damit als grundsätzlich verkehrsüblich und gemeinverträglich. Es gehört daher zum Parken im Sinne von § 16 StVG."

    https://bibliothek.wzb.eu/artikel/2021/f-24377.pdf

    (Ich hatte das Zitat zunächst versehentlich im falschen Thread gepostet, dort aber wieder gelöscht.)

  • Das zitierte Urteil ist 1966 gefallen. Noch mehr als heute war vmtl. damals das Auto der Deutschen liebstes Kind. Apropos Kinder, es gibt ja mittlerweile einen Rechtsanspruch auf KiTa-Plätze zum parken der lieben Kleinen. Vielleicht könnte man auch einen Rechtsanspruch zum Parken des....?

  • Das zitierte Urteil ist 1966 gefallen. Noch mehr als heute war vmtl. damals das Auto der Deutschen liebstes Kind. Apropos Kinder, es gibt ja mittlerweile einen Rechtsanspruch auf KiTa-Plätze zum parken der lieben Kleinen. Vielleicht könnte man auch einen Rechtsanspruch zum Parken des....?

    In einem HAZ-Kommentar *) wurden kürzlich drei Gründe genannt, warum Parkplätze in Straßen von Wohngebieten angeblich unverzichtbar seien: "Gesundheitliche Gründe, Altersgründe, Berufsgründe"

    Welcher Grund traf hier zu? Siehe Foto!

    Der Unterschied zwischen Autos und Kindern in Deutschland ist:
    Für Autos wird gesorgt.

    "Seit zehn Jahren haben Kinder ab dem ersten Lebensjahr Anspruch auf einen Kitaplatz. So weit die Theorie. In der Praxis fehlen mehr als 380.000 Plätze, Erzieherinnen sind Mangelware. Personal und Eltern sind am Limit." *)

    Wenn ich mir anschaue, was für Autos in den Straßen vieler Stadtteile herumstehen, dann habe ich nicht den Eindruck, dass Parkplätze Mangelware sind.

    Wenn ich andererseits den Kampf um die viel zu knappen Kita-Plätze beobachte, wo dann Eltern Nachweis über Art und Umfang ihrer Berufstätigkeit führen müssen, um zum Beispiel einen Kita-Ganztagsplatz zu bekommen, oder einen Hortplatz, dann wird klar: Für Stellplätze für Autos wird in Deutschland gesorgt ...;(

    *) https://www.deutschlandfunkkultur.de/10-jahre-kitaplatz-anspruch-wunsch-und-wirklichkeit-dlf-kultur-220721e4-100.html#

    *) HAZ-Printausgabe vom Samstag, 18.11.23

    Einmal editiert, zuletzt von Ullie (21. November 2023 um 06:51) aus folgendem Grund: Foto zugefügt

  • "Ebenfalls unverändert wirksam ist die Straßenverkehrsordnung, die nicht nur die Optimierung des Autoverkehrs zum obersten Ziel hat, sondern auch das Abstellen von privaten Fahrzeugen auf öffentlichen Flächen als Gemeingebrauch absichert."

    Andreas Knie in: Der Laternenparker von Bremen Die Gesellschaft muss erstreiten, welchen Raum der Autoverkehr einnehmen soll

    https://bibliothek.wzb.eu/artikel/2021/f-24377.pdf

    Das ist nur ein Beispiel dafür, dass die StVO eigentlich eine StV(U)O, eine Straßenverkehrs(Unrechts-)ordnung ist, die den nichtmotorisierten Verkehr massiv benachteiligt. Selbst das legale Parken ist oft verbunden mit einer Reduktion der Verkehrsfläche für den nichtmotorisierten Verkehr, inklusive Dooring-Gefahr. Ganz zu schweigen vom unerlaubten, häufig aber von der Verkehrsverwaltung geduldeten Falschparken.

    Da lässt dieses Berliner Verwaltungsgerichtsurteil aufhorchen:

    "Damit Radfahrer sicher vorankommen, fallen in der Handjerystraße in Friedenau viele Autostellplätze weg. Das wollten Anwohner nicht hinnehmen und zogen vor das Verwaltungsgericht Berlin. Einen Erfolg im Kampf gegen die neue Fahrradstraße konnten sie dort jedoch nicht erzielen, wie jetzt bekannt wurde. In zwei Entscheidungen hat die 11. Kammer des Gerichts die Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zurückgewiesen – ein Erfolg für das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg. Einen individuellen Rechtsanspruch auf Parkmöglichkeiten gebe es nicht, hieß es."

    Berlin-Friedenau: Kein Recht auf Parkplätze – Gericht gibt grünes Licht für neue Fahrradstraße
    In der Handjerystraße in Friedenau bekommen Radfahrer mehr Platz. Anwohner zogen vor Gericht – ohne Erfolg, wie zwei Entscheidungen jetzt zeigen.
    www.berliner-zeitung.de

    Wurde denn vor 1956 (Beginn des Rechtsstreits ca.) NIE auf der Fahrbahn geparkt? Würde mich wundern ...

    In dem verlinkten Text heißt es:

    "Ein Bremer Kaufmann hatte seinen Kleinlastwagen, mangels eines geeigneten privaten Stellplatzes, abends und am Wochenende einfach am Straßenrand abgestellt und war deshalb mehrfach von den Bremer Ordnungskräften abgemahnt worden. Er tat es dennoch immer wieder, beendete also das nach Sicht des Bremer Senats illegale Abstellen seines Fahrzeugs keineswegs. Die Kontroverse dauerte beinahe zehn Jahre, bis schließlich das Bundesverwaltungsgericht dem Kaufmann recht gab. Es erlaubte das Parken von Autos auf öffentlichen Flächen."

    Das hört sich so an, als wurde vor 1956 in der Regel nicht auf der Fahrbahn geparkt in dem Sinne, dass das Fahrzeug dort über Nacht abgestellt wurde, oder am Wochenende. Hat vermutlich auch damit zu tun, dass damals ein Auto sehr viel teurer war als heute. Selbst das Benzin war zum Beispiel 1960 mehr als doppelt so teuer wie 2007 (wenn man die Kaufkraft in Lohnminuten zugrunde legt). 1960 musste man für einen Liter Normalbenzin 14 Minuten arbeiten, 2007 waren es gerade einmal 6 Minuten.

    http://ernaehrungsdenkwerkstatt.de/fileadmin/user_upload/EDWText/TextElemente/Ernaehrungswirtschaft/Kaufkraft_-_Lohnminuten_-_1960_2007.pdf

    Deshalb war es vermutlich in den 50er-Jahren noch üblich, dass man das heilige Blechle wie in einem Schrein in der Garage aufbewahrte, zumindest über Nacht und am Wochenende.

    Am Marstall (BD 080889) | Vorträge | Veranstaltungen | Historisches Museum | Kultur & Freizeit | Landeshauptstadt Hannover | Bilder | 01 DATA (Neu) | Media | Top Level Nodes

    Das verlinkte Foto aus Hannover ist von 1960. Das wäre ein gute Frage an einen Zeitzeugen, ob er sich daran erinnern kann, dass der Parkplatz am Marstall in Hannover damals nachts und am Wochenende leer stand.

    So sieht es da heute aus: Der Parkplatz, errichtet auf Trümmergrundstücken aus dem 2. Weltkrieg, wurde vor wenigen Jahren gegen zum Teil wütende Anwohnerproteste gegen den Parkplatz-Rückbau bebaut (Gebäude mit Tiefgaragen), bzw. zur Grünanlage umgestaltet. Trotz der Tiefgaragen-Stellplätze gibt es leider immer noch zahlreiche oberirdische Auto-Stellplätze.<X

    Google Maps
    Find local businesses, view maps and get driving directions in Google Maps.
    www.google.de

    Ob das Berliner Verwaltungsgerichtsurteil dazu beiträgt, das die Fahrradstraßen in Hannover sicherer werden? Oder ob in Hannover die SPD die Regierungskoalition im Rathaus aufkündigt und sich zusammen mit den anderen Autoparteien, CDU und FDP durchsetzt und die meisten Fahrradstraßen aufgegeben werden?

  • Er tat es dennoch immer wieder, beendete also das nach Sicht des Bremer Senats illegale Abstellen seines Fahrzeugs keineswegs. Die Kontroverse dauerte beinahe zehn Jahre, bis schließlich das Bundesverwaltungsgericht dem Kaufmann recht gab. Es erlaubte das Parken von Autos auf öffentlichen Flächen.

    Nach dem ich mir gestern abend mal das Urteil im Original https://research.wolterskluwer-online.de/document/3930e…d2-6fcb4132e516 angeschaut habe, kann ich irgendwie nicht mehr so recht nachvollziehen, warum Knie das als vorher angeblich verboten bezeichnet ...

    Im Prinzip ging der Rechtsstreit damals um Straßenverkehrsrecht versus Straßenrecht. Die Bremer hatten in ihr Straßenrecht Regelungen zum Parken gmeint reinschreiben zu wollen, die aber ins Straßenverkehrsrecht gehören und Verkehrsregeln waren zu der Zeit schon bundesweit vereinheitlicht (vmtl. galt das schon seit den 30ern oder noch früher reichsweit): Die StVO schreibt bundesweit vor, damals in §§ 15 und 16, heute in § 12 etc., wo man parken darf und wo nicht, wobei die Länge des Parkens nicht definiert und nur vom Halten unterschieden wird.
    Die Bremer meinten über die Widmung, also Straßenrecht, eine maximale Parkdauer ableiten zu können.
    Das muss schon daran scheitern, das niemand von sonstwoher alle Straßenrechte aller Länder/Städte/... kennen kann.
    Wenn Parken irgendwo stört: Schild aufstellen oder irgendwas hinpinseln oder was auch immer und somit Verbote jedermann verkünden.
    Sonst wäre das so wie wenn Hintertupfingen sagen würde "Bei uns sind Radwege auch ohne Vz 240 aus unserer eigenen Widmung heraus benutzungspflichtig und die "Straße" auch ohne 254 verboten, woher Dud as wissen kannst, ist nicht unser Problem": Geht ja gar nicht ...

    Dass sich das Laternenparken in den 50er/60er explosionsartig verbreitet hat und zum Massenproblem wurde, ist davon mal unabhängig, genauso wie dass für Neubauten Garagen vorgeschrieben wurden. Das machte das Parken auf der Fahrbahn vorher nicht verboten für garagenlosen Leuten in Altbaugebieten.
    Wahrscheinlich war es das nie und man konnte, wenn man wollte, auch Kutschen schon unter der "Laterne" parken, nur waren dann die "1-PS-Motoren" irgendwann verhungert, wenn man das zu lange mit "laufendem Motor" machte, wie der Bremer übers Wochenende, weswegen sich die Frage seltener stellte bzw. der Motor irgendwann weitergelaufen ist ...

  • Nach dem ich mir gestern abend mal das Urteil im Original https://research.wolterskluwer-online.de/document/3930e…d2-6fcb4132e516 angeschaut habe, kann ich irgendwie nicht mehr so recht nachvollziehen, warum Knie das als vorher angeblich verboten bezeichnet ...

    Ich habe mich auch schon gefragt, ob denn das Laternenparken" vorher strikt verboten war. Denn zu dieser Überlegung kann man kommen, wenn man die Darstellung von Andreas Knie liest: "Ein Bremer Kaufmann hatte seinen Kleinlastwagen, mangels eines geeigneten
    privaten Stellplatzes, abends und am Wochenende einfach am Straßenrand abgestellt und war deshalb mehrfach von den Bremer Ordnungskräften abgemahnt worden."

    Du schreibst ja:


    Wahrscheinlich war es das [das Laternenparken] nie [verboten] und man konnte, wenn man wollte, auch Kutschen schon unter der "Laterne" parken, nur waren dann die "1-PS-Motoren" irgendwann verhungert, wenn man das zu lange mit "laufendem Motor" machte, wie der Bremer übers Wochenende, weswegen sich die Frage seltener stellte bzw. der Motor irgendwann weitergelaufen ist ...

    Hatte denn der Bremer Kaufmann den Motor seines Wagens laufen lassen, als er auf den Bremer Straßen nachts und am Wochenende parkte? Hatte ich das überlesen in der von dir angegebenen Quelle? Der Bremer Laternenparker war jedenfalls ein Kaufmann und sein 2-t-Lieferwagen im damaligen Vergleich schon recht groß. Das ist ein Foto von einem Borgward-Lieferwagen-Oldtimer:

    Borgward B 611 – Wikipedia
    de.wikipedia.org

    Ich weiß aus eigener Erinnerung, dass zumindest im ländlichen Raum es auch in den 90er-Jahren noch verpönt war, sein Fahrzeug auf der Fahrbahn zu parken. Weil aber in immer mehr Familien der Zweitwagen und häufig auch noch ein Dritt- und Viertwagen üblich wurden, reichte der Platz auf den Grundstücken häufig nicht, oder die Familien waren nicht bereit, dafür den Garten zu verkleinern, dass auf dem Grundstück mehrere Fahrzeuge hätten unterkommen können. So setzte es sich nach und nach durch, dass diejenigen Dorfbewohner, denen das Zuparken der Dorfstraßen missfiel, als kinderlose Nörgler abgestempelt wurden, die nichts zu melden hatten.

    Ich lese die Abhandlung von Andreas Knie nicht in dem Sinne, dass vorher das sogenannte "Laternenparken" strikt verboten war und aufgrund des Bremer Urteils von heute auf Morgen plötzlich erlaubt wurde. Zumal sich die Urteilsfindung über eine Zeitraum von 10 Jahren erstreckte, in denen der Auto-Bestand in Westdeutschland sich vervielfachte.

    1955: 5,8 Millionen KFZ, davon 1,8 Millionen PKW

    1965: 14,3 Millionen KFZ (fast dreimal so viel), davon 10,5 Millionen PKW (also mehr als fünfmal so viel PKW)

    Agenda 21; Daten; KFZ-Bestand Deutschland 1950 bis 2000

    Vielmehr macht Knie darauf aufmerksam, wie die Einstellung der Gesellschaft sich verändert hat. Denn es wird an mehreren Stellen in dem von dir verlinkten Text deutlich, dass es begründete Hindernisse gab, die gegen das Laternenparken sprechen. Nicht zuletzt wird mehrfach auf §1 StVO Bezug genommen: "Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. (2) Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird."

    Genau das ist doch der Grund, wenn zum Beispiel eine Verkehrsverwaltung in einer Fahrradstraße einen Handlungsbedarf dafür sieht, das Parken einzuschränken. Den Fahrradfahrenden soll es möglich sein, in der Fahrradstraße (die für den Autoverkehr freigegeben ist) nebeneinander zu fahren, ohne immer auf Hintereinander fahren "umschalten" zu müssen, wenn Gegenverkehr kommt.

    Wenn in einer Fahrradstraße (legal) so geparkt werden kann, dass dort ein angenehmes Nebeneinanderfahren von Fahrradfahrenden nicht möglich ist, weil diese von Autofahrenden zum Hintereinanderfahren gezwungen werden, dann werden diese Fahrradfahrenden behindert und belästigt. Erschwerend kommt dazu, dass meistens nur eine Person im Auto sitzt, aber diese Person zusätzlich einen leeren Beifahrersitz spazieren fährt.

    1965, so Knie, war die Autobegeisterung so ungetrübt und wurde von so viel Menschen geteilt und wurde nur von so wenigen Zeitgenossen in Frage gestellt, dass es nicht mit heute vergleichbar ist. Besonders die Anzahl der Menschen, die ganz bewusst ohne Auto mobil sind, hat deutlich zugenommen im Vergleich zu 1965. Und auch die Menschen, die aufgrund von Behinderung oder niedrigem Einkommen nicht in der Lage sind, sich ein Auto zu leisten, melden sich vermehrt zu Wort, um mehr Rechte für nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer*innen einzufordern. Darauf macht Knie mit seiner Abhandlung über das Zustandekommen des Bremer Laternenparker-Urteils von 1955-1965 zu Recht aufmerksam.

    https://bibliothek.wzb.eu/artikel/2021/f-24377.pdf

  • Genau das ist doch der Grund, wenn zum Beispiel eine Verkehrsverwaltung in einer Fahrradstraße einen Handlungsbedarf dafür sieht, das Parken einzuschränken. Den Fahrradfahrenden soll es möglich sein, in der Fahrradstraße (die für den Autoverkehr freigegeben ist) nebeneinander zu fahren, ohne immer auf Hintereinander fahren "umschalten" zu müssen, wenn Gegenverkehr kommt.

    Um solchen Luxus wie "nebeneinander fahren" geht es bei dem Berliner Urteil gar nicht – sondern darum, dass die Restbreite nichtmal die Anforderungen für eine freigegebene Einbahnstraße erfüllt, sicher aber nicht für eine in beiden Richtungen mit Rad- und Autoverkehr zu befahrene Straße (was sie derzeit ist).

  • Um solchen Luxus wie "nebeneinander fahren" geht es bei dem Berliner Urteil gar nicht – sondern darum, dass die Restbreite nichtmal die Anforderungen für eine freigegebene Einbahnstraße erfüllt, sicher aber nicht für eine in beiden Richtungen mit Rad- und Autoverkehr zu befahrene Straße (was sie derzeit ist).

    Die vielen Fahrbahn-Parker haben alle "ihre" Reichsgaragen-Verordnung von 1939 nicht gelesen.

    Da heißt es in der Präambel:

    "Die Förderung der Motorisierung ist das vom Führer und Reichskanzler gewiesene Ziel. Die Zunahme der Kraftfahrzeuge im Straßenverkehr erfordert, daß die öffentlichen Verkehrsflächen für den fließenden Verkehr frei gemacht und möglichst wenig durch ruhende Kraftfahrzeuge belastet werden. Zu diesem Zweck müssen die Kraftfahrzeuge dort, wo sie regelmäßig längere Zeit stehen, außerhalb der öffentlichen Verkehrsflächen ordnungsgemäß eingestellt werden." *)

    Das Interessante an dieser Präambel:

    Dort, wo sie länger stehen, müssen die Kraftfahrzeuge außerhalb der Verkehrsflächen abgestellt werden. Also nichts mit Laternenparken über Nacht oder am Wochenende.

    Aber das Problem hatte sich ja in vielen Städten in Deutschland durch den Bomben-Krieg erledigt, sodass auf geräumten Trümmer-Grundstücken viele Autostellplätze zur Verfügung standen.

    Hier ein Bild vom Frankfurter Römer aus den 50er Jahren (die markanten Giebelhäuser des "Römer" sind eine gute Orientierung!):

    https://preview.redd.it/der-r%25C3%25B6mer-in-der-nachkriegszeit-eigentlich-nicht-mehr-als-v0-8t33uh5bc0ub1.jpg?width=1080&crop=smart&auto=webp&s=d4ae83a4047ff180e53eed077d7502875925cc45

    Und so sah es dort 1938 aus:

    https://frankfurt-und-der-ns.de/media/images/Der_Romer_im_Jahr_1938.original.png

    Hier eine Luftaufnahme aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg:

    https://www.pro-altstadt-frankfurt.de/images/Illustrationen/Luftaufnahme_Frankfurt_am_Main.jpg

    *) https://www.stadtgrenze.de/s/p3r/rgao/rgao01.htm

  • Die vielen Fahrbahn-Parker haben alle "ihre" Reichsgaragen-Verordnung von 1939 nicht gelesen.

    ...

    Dort, wo sie länger stehen, müssen die Kraftfahrzeuge außerhalb der Verkehrsflächen abgestellt werden. Also nichts mit Laternenparken über Nacht oder am Wochenende.

    Wie im Falle Bremen festgestellt stehen die ReichsgaragenVO und ihre Nachfolger und sonstige lokale VOs eben gerade NICHT über der StVO, was straßenverkehrsrechtliche Fragen betrifft, wie eben die Frage, wo man wie parken darf, sondern genau umgekehrt.

    Die GaragenVOs etc. können baurechtliche Fragen regeln, mehr nicht. Also wer wie wieviele Garagen zu bauen hat, wenn er neue Wohn- und Gewerbebauten errichten oder vmtl. wesentlich ändern will.

  • Hatte denn der Bremer Kaufmann den Motor seines Wagens laufen lassen

    Ich meinte vierbeinige Hafermotoren ... ;)

    Ansonsten geht es in Urteilen selten darum, was üblich ist, sondern was legal ist, sofern es Gesetzte zum Thema gibt.

    Nicht zuletzt wird mehrfach auf §1 StVO Bezug genommen: "Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. (2) Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird."

    Da müsste man mal deutsche und österreichische StVO bzw. Praxis vergleichen. Ich meine mich zu erinnern, dass in .de einsouriges passieren keine wesentliche Behinderung ist, muss, meine ich, in .at Gegenverkehr möglich sein. Kann mich aber auch irren, muss man recherchieren.

    Ansonsten: 2006 bei einem längeren Aufenhalt in einem Kurort nicht weit weg bin ich zunächst mit Rad und Anhänger angereist, Leider gab das Rad vor Ort das Rad den Geist auf, so dass ich mein damals noch vorhandenes Auto nach holte. An einem WE war zielnahes Parken wegen eiens Festes nicht möglich, also parkte ich am Fahrbahnrand der Durchgangsstr., wie viele den Tag, keine Beschilderung. Unter der Woche brauchte ich die Karre nicht, also stand sie dort irgendwann ziemlich einsam. Am WE heimgefahren fand ich auf dem AB eine Benachrichtigung der Polizei, ich möge doch anderswo parken, weil der Verkehr fühle sich gestört oder so (schon fast 20 Jahre her, genauer Text nicht merh erinnerlich ...), Deine erwähnte "Üblichkeit" hielt sich dort in den dunklen Wäldern wohl noch länger ... ;) Beschildert ist m.W.n. noch immer nix, aber mangels Auto kann ich nicht mehr probieren, dort länger zu parken ...

  • Ich meinte vierbeinige Hafermotoren ... ;)

    Ach so!

    Da müsste man mal deutsche und österreichische StVO bzw. Praxis vergleichen. Ich meine mich zu erinnern, dass in .de einspuriges passieren keine wesentliche Behinderung ist, muss, meine ich, in .at Gegenverkehr möglich sein. Kann mich aber auch irren, muss man recherchieren.

    Worauf ich hinaus wollte ist, dass in dem Artikel von Andreas Knie darauf hingewiesen wird, dass dieser Passus in der StVO eben nicht ganz klar definiert ist. Und dass heutige Richter eine andere Gewichtung vornehmen könnten (wenn sie denn wollten) als das in den 50er und 60er Jahren der Fall war.

    Möglicherweise wird auch die Berücksichtigung einer älter werdenden Gesellschaft dazu führen, dass zum Beispiel der Platzbedarf für Fußgänger anders definiert wird, als früher.

    Ein Rentnerpaar, beide mit Rollator, möchte sicher gerne nebeneinander spazieren gehen können im eigenen Wohnviertel. Das geht nicht, wenn dort die Fußwege so stark zugeparkt sind, dass nur noch ein Hintereinandergehen möglich ist, womöglich sogar nur ohne Rollator.

    Die Rechte von Menschen mit Behinderung rücken auch stärker in den Fokus. Besonders im ÖPNV ist das ein großes Thema und es werden sehr viele zum Teil sehr kostenintensive Investitionen getätigt, um dem Anspruch Barrierefreiheit gerecht zu werden. (Trotzdem reicht das, was investiert wird, noch bei weitem nicht aus.)

    Aber es stellt sich die Frage, was nutzt es einer*m Rolli-Fahrer*in, wenn er/sie zwar barrierefrei aus der Stadtbahn aussteigen kann, aber dann nicht zu dem Haus gelangen kann, um z. B. jemanden zu besuchen?

    Foto: angeordnetes Gehwegparken in Hannover

    Malte hat einen taz-Artikel vom 20.11.23 verlinkt, der sich explizit mit dem Bremer Laternenparker-Urteil beschäftigt: Parkende Autos - Dieser Platz ist besetzt

    Parkende Autos: Dieser Platz ist besetzt
    Überall stehen Autos an den Straßen herum. Ein Flächenfraß. Dass der überhaupt erlaubt ist, verdanken die Städte dem Bremer Laternenparker-Urteil.
    taz.de