Wie manch anderer aus diesem Forum bin ich ja relativ häufig auf Fahrraddemonstrationen in unterschiedlichen Städten anzutreffen. Und grundsätzlich fällt mir bei jeder Demonstration aufs Neue auf, wie sehr viel motorisierte Gewalt inzwischen zugenommen hat. Ich möchte gerne ein paar Beispiele aus den letzten vier Wochen anführen:
Am 4. Juni stand die Fahrradsternfahrt in Berlin im Kalender. Zu dritt brachen wir in Oranienburg auf, in den folgenden sieben Stunden sammelte ich nicht nur 75 km Strecke, sondern auch eine Ohrfeige und zwei Vorladungen als Zeuge ein. Obwohl der Demonstrationszug von der Polizei begleitet wurde, drangen immer wieder Kraftfahrzeuge in den Aufzug ein, nutzen kleine Lücken, um die Straße zu queren, oder fuhren für einige hundert Meter mit. Das eskalierte zum ersten Mal, als ein Teilnehmer versuchten, einen Kraftfahrer zu stoppen, der seine kurze Lunte bereits unter Beweis gestellt hatte. Angeblich habe ein Radfahrer auf das Auto geschlagen, woraufhin der Kraftfahrer unter Gefährdung weiterer Radfahrer die Tür aufriss, nach vorne lief und den mutmaßlichen Täter von hinten vom Rad stieß. Das war schon ein Manöver, bei dem man jemanden schwer oder gar tödlich verletzen kann. Das alles passierte unter dem wachsamen Auge der Polizei und dem Geschrei der Beifahrerin, dass wir als Demonstrationszug ihren Kindern Angst machten.
Eine knappe Stunde später müssen am Alexanderplatz abertausende Fahrräder durch diese schmale Gasse rollen. Die Polizei ist weit und breit nicht zu sehen, es wird gehupt, gebrüllt, einige versuchen mit dem Auto langsam durch den Demonstrationszug zu fahren. Plötzlich kommt ein Mann angerannt, schlägt offenbar wahllos einem Radfahrer mit der Faust mitten ins Gesicht, rennt wieder weg, bemerkt mich und meine Kamera und schlägt mir ebenfalls ins Gesicht, um dann in irgendeinem Auto zu verschwinden. Ich kann nicht einmal beschreiben, welche Kleidung der Mann trug. Es ist eine dermaßen absurde Situation, dass wir beide als Geschädigte die Sache zunächst mit einem Schulterzucken quittieren, „dit is Bärlin“, später wird dann doch noch die Polizei hinzugezogen, die aber zunächst damit befasst ist, sich auf der Kreuzung gegen dutzende Hupen Gehör zu verschaffen.
Die Hamburger Fahrradsternfahrt folgt zwei Wochen später. Es dauert fast 70 km bis zum ersten ernsthaften Vorfall, aber davon gibt’s dann eine ganze Menge. In Wilhelmsburg sind erneut eine Menge Kreuzungen nicht von der Polizei gesichert, sondern nur jeweils von einer Handvoll Teilnehmern, die noch nicht einmal als Ordner gekennzeichnet sind. Es dauert nicht lange, bis sich der Aufzug mit Kraftfahrzeugen vermischt und wir als Ordner mitsamt unserer Fahrräder mit der Stoßstange angeschoben werden. Plötzlich setzen Kraftfahrer an, über die Gegenfahrbahn mit hoher Geschwindigkeit geradezu durch das Teilnehmerfeld zu schießen — dass hier keiner zu Tode gekommen ist, darf man wohl als Glückssache bezeichnen. Während die einen ihr Glück auf der Gegenfahrbahn herausfordern, werden wir von den übrigen Kraftfahrern dermaßen übel beschimpft und bedroht, dass wir der Sache kaum noch Herr werden können und uns zurückziehen.
Kurz darauf rückt ein Streifenwagen mit Blaulicht an, kann immerhin einen Arm der Kreuzung sperren — die Lautsprecherdurchsage mit der Aufforderung, das Hupen einzustellen, ist nicht mal im Ansatz zu hören:
Als Ordner versuchen wir die Sache wieder in den Griff zu bekommen, fahren durch größere Lücken wieder nach vorne, um die nächste Kreuzung abzusichern — gänzlich erfolglos. Ein Kraftfahrer hält mit seinem Pickups auf mich drauf, ich fahre lieber schnell zur Seite, denn rechtzeitig bremsen hätte er kaum noch können. Nur wenige hundert Meter später werde ich zwischen zwei Kraftfahrzeugen eingeklemmt, deren Fahrer mich durchs offene Fenster beschimpfen und mich offensichtlich vom Fahrrad holen wollen.
Dann soll der Aufzug eigentlich auf die Wilhelmsburger Reichsstraße geführt werden. Dazu leitet die Polizei den Verkehr von der autobahnähnlich ausgebauten Bundesstraße herunter, aber da dort unten niemand den Verkehr regelt und keine Ordner zu sehen sind, fahren die Kraftfahrer einfach geradeaus wieder die Einfahrt auf die Bundesstraße hoch. Ich kann’s ihnen noch nicht einmal verdenken, womöglich denken die bloß, es gäbe einen Unfall und die Polizei habe sich überlegt, den Verkehr auf diese Weise um die Unfallstelle herumzuleiten.
Womöglich wäre ich an deren Stelle ähnlich verfahren — allerdings hätte ich dann doch gestutzt, was wohl die vielen Radfahrer auf der Straße machen:
Stoppen ließen sich die Kraftfahrer nicht, eine Kommunikation war durch das geschlossene Fenster ohnehin nicht möglich. Versuchte man sie auszubremsen, fuhren sie wie Kugeln in einem Flipperautomaten durch den Aufzug.
Ein paar hundert Meter weiter sind ebenfalls die Auffahrten auf die Bundesstraße ungesichert, ein wütender Kraftfahrer rammt dort offenbar mit hohem Tempo vor Wut einen Radfahrer.
Am 2. Juli wurde in Berlin von einem breit aufgestellten Aktionsbündnis gegen die Verkehrspolitik der CDU demonstriert. Die Demonstration war angeblich für 3.000 Teilnehmer angemeldet worden, gekommen sind, je nach Schätzung, zwischen 8.000 und 13.000 Räder, die sich teilweise über acht Kilometer durch die Stadt schlängelten. Erst fuhr ich in der Spitze des Demonstrationszuges mit und ließ mich für ein paar Fotos hin und wieder ein paar hundert Meter nach hinten fallen. Dort war die Stimmung schon deutlich gereizter, es war das übliche Gepöbel aus dem geöffneten Autofenster zu hören, Kraftfahrer machten wie immer Anstalten, durch den Aufzug hindurchzufahren. Am Alexanderplatz angekommen fuhr ich wieder zurück zur Warschauer Straße und kurbelte einen Teil der Strecke noch mal am Schluss des Zuges ab. Was sich dort abspielte, ist ja einfach nur noch beispiellos. Teilnehmer hatten mittlerweile an jeder Kreuzung zu gecorkt und dabei ihre Räder wie einen Zaun zusammengestellt, währenddessen wurde von der anderen Seite des Zauns gehupt, geschimpft oder auch mal geprügelt. Die Polizei, die mit Kraftfahrzeugen, Motorrädern und offenbar der kompletten Fahrradstaffel unterwegs war, schien mir teilweise komplett überfordert zu sein. Es war einfach ganz normal, in diesem Demonstrationszug mitzufahren, während sich an den Kreuzungen Radfahrer und aufgebrachte Kraftfahrer schubsten oder prügelten.
Hier versuchte jemand auf der Gegenfahrbahn die corkenden Radfahrer umzufahren und hatte plötzlich die Staatsmacht am Hals:
Das sind nur drei Beispiele und ja, ich weiß, dass ich ganz besonders aufmerksam bin, was solche Vorfälle angeht. Andere Menschen nehmen das nicht wahr, weil sie sich in der Nähe eines Polizeiwagens aufhalten, weil sie nach dem ersten Vorfall nach Hause fahren oder sich nicht als Ordner oder Corker engagieren. Das ist okay.
Ich muss dann immer an die Fahrradsternfahrt München denken: Dort stand an jeder noch so kleinen Straße in jedem noch so kleinen Dorf jemand von der (Freiwilligen) Feuerwehr und sperrte die Straße ab. Sogar Supermarktparkplätze wurden an jenem Sonntag blockiert, falls sich jemand während der zehn Minuten entscheiden sollte, jetzt doch schnell mit seinem dort geparkten Auto loszufahren oder den dortigen Bäcker anzusteuern. Das hat auch den Vorteil, dass die Leute sich da in Bayern ja alle kennen, sich nett unterhalten und nicht versuchen, die Feuerwehrleute zu überfahren, denn das sind ja deren Nachbarn.
Dieser geradezu exzessive Einsatz der Feuerwehr scheint aber eine bayerische Besonderheit zu sein, die in anderen Bundesländern offensichtlich nicht möglich ist.
Aber mir fehlt so langsam tatsächlich die Fantasie, wie wir als Teilnehmer und als Veranstalter überhaupt noch Fahrraddemonstrationen durchführen möchten. Mir ist klar, dass es nicht genügend Polizeibeamte gibt, um eine Fahrradsternfahrt in Hamburg oder Berlin von vorne bis hinten abzusichern. Aber es kann ja auch nicht sein, dass wir als Ordner unseren Kompetenzbereich verlassen und uns mit ungeduldigen Kraftfahrern prügeln oder mit zwei Vorladungen in der Tasche wieder nach Hause gehen.
Ich habe den Eindruck, dass solche Demonstrationen überhaupt nicht mehr durchführbar sind — entweder wird Sorge getragen, dass genügend Polizeibeamte zur Verfügung stehen, um den gesamten Aufzug zu schützen, oder wir lassen es eben bleiben. Aber so wie es jetzt gerade läuft, kann es nicht weitergehen. Da hilft auch keine abschließende Retrospektive mehr, denn selbst wenn wir beispielsweise in Hamburg-Wilhelmsburg die Kreuzung besser sichern und die Polizei direkt dort unterstützt, dann fehlt’s ja an allen möglichen anderen Stellen.
Insgesamt bin ich aber vor allem erstaunt, wie alltäglich es mittlerweile geworden ist, von anderen Menschen in wirklich schlimmster Form beschimpft zu werden — und wie normal Prügeleien am Rande von solchen Demonstrationen mittlerweile sind. Daran sollten wir als Gesellschaft auch mal arbeiten, aber ich habe den Eindruck, nun ja, die Mühe könnten wir uns wohl auch sparen.