Woche 50 vom 12. bis zum 18. Dezember 2022

  • Man kann akzeptieren, dass das Wasser bergauf oder bergab fließen soll, je nach Anordnung des Ministerpräsidenten. Aber einmal so, das andere mal so, verursacht regelmäßig Kopfschmerzen.

    simon hat es doch erklärt: Benutzungspflicht und/oder T30 geht nur bei Nachweis einer qualifizierten Gefahrenlage gemäß §45 (9) Satz 3. Wenn dein MP das anders sieht, wird das VG eine solche Anordnung einkassieren. Ist nur leider mühsam, dagegen in jedem einzelnen Fall vorzugehen.

    In der Tat benutze ich das hier aber als Argumentation. Wenn eine Benutzungspflicht besteht, obwohl die baulichen Voraussetzungen der VwV-StVO beim "Radweg" nicht erfüllt sind, hat die Verkehrsbehörde ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Anstatt nämlich Radfahrer zu zwingen, einen mangelhaften "Radweg" zu benutzen, hätte die Behörde auch ein Tempolimit anordnen können, um den angeblich bestehenden Konflikt aufzulösen. Diese Argumentation hat in der Vergangenheit (fast) immer dazu geführt, dass die Behörde festgestellt hat, dass es wohl doch nicht so gefährlich war. Jedenfalls wurde bisher nirgends T30 angeordnet, nachdem die [Zeichen 240] entfernt wurden.

  • Also gibt es nicht "die" qualifizierte Gefahrenlage, sondern die "passende"?

    Vorneweg: Ich kenne die genauen Vorschriften nicht, sondern interpretiere nur §45 Abs. 9 StVO.

    Im Urteil und bei der Anordnung von B-Pflichten geht es um die Auslegung von §45 Abs. 9 StVO. Insbesondere Satz 3:

    Zitat

    Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt.

    "Gefahrenlage" ist hier meines Wissens nach nicht zwingend eine Gefahr für Leib und Leben. Sondern eine mögliche Gefährdung anderer Rechtsgüter, die in den anderen Absätzen von §45 genannt werden. Die dort beschriebenen Rechtsgüter sind jeweils sehr allgemein gehalten und bedürfen der Auslegung.

    Und da unterschiedliche Rechtsgüter betroffen sind, gelten auch jeweils unterschiedliche Anforderungen an die "Gefahrenlage". Je nachdem, was angeordnet werden soll.

  • Wie kommst Du darauf, dass für beides die gleichen Anforderungen gelten sollten?

    Das Gericht argumentiert in der PM oben im Wesentlichen über das Fehlen einer Verzögerung im Fahrplan ohne Busspur. Vermutlich meinen sie mit "Gefahrenlage" die "Gefahr von Verzögerungen im Betriebsablauf".

    "Ordnung (vulgo: Leichtigkeit) des Verkehrs" ist kein Selbstzweck. Die aus dem Polizeirecht stammende Floskel "Sicherheit und Ordnung" zielt in beiden Partikeln immer und ausschließlich auf die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben der Bevölkerung ab. "Verzögerungen im Betriebsablauf" müssten also erstens eine logisch nachvollziehbare Auswirkung auf die menschliche Gesundheit haben, und zweitens muss diese dann auch noch so dramatisch sein, dass sie ortsspezifisch über das Maß an Hintergrundrauschen, das verkehrsbedingte Verzögerungen im Betriebsablauf auf die menschliche Gesundheit ausüben könnten, "erheblich" hinausgeht.

  • Benutzungspflicht und/oder T30 geht nur bei Nachweis einer qualifizierten Gefahrenlage gemäß §45 (9) Satz 3.

    Ja, stimmt. Aber meine dumme Frage war, ob es "die eine" qualifizierte Gefahrenlage gibt, oder deren mehrere, je nach "Zweck". Und wie ich simon verstanden habe, wird da fröhlich unterschieden.

    Und selbst wenn es nur "die eine" qualifizierte Gefahrenlage gäbe, müsste man das Gericht vermutlich darauf hinweisen, dass diese bereits als existent erklärt wurde?

  • "Gefahrenlage" ist hier meines Wissens nach nicht zwingend eine Gefahr für Leib und Leben. Sondern eine mögliche Gefährdung anderer Rechtsgüter, die in den anderen Absätzen von §45 genannt werden. Die dort beschriebenen Rechtsgüter sind jeweils sehr allgemein gehalten und bedürfen der Auslegung.

    Guter Punkt. Die dort genannten Rechtsgüter sind:

    - Verkehrssicherheit

    - Leichtigkeit des Verkehrs

    - Luftreinhaltung

    - Verhütung von außerordentlichen Schäden an der Straße

    Habe ich was vergessen?

    Allenfalls die "Leichtigkeit des Verkehrs" kann man durch eine Separation erhöhen (solange man die "Leichtigkeit", mit dem Fahrrad unversehrt über eine Kreuzung zu fahren vernachlässigt). Alles andere erreicht man nicht durch benutzungspflichtige Radwege, aber durch eine Geschwindigkeitsbeschränkung.

    Dazu findet man aber in der VwV-StVO diesen schönen Absatz (zu den §§39 - 43, Randnummer 5):

    Zitat

    Die Flüssigkeit des Verkehrs ist mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu erhalten. Dabei geht die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer der Flüssigkeit des Verkehrs vor. Der Förderung der öffentlichen Verkehrsmittel ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

    Maßnahmen zur Verbesserung der "Flüssigkeit des Verkehrs" sind demnach nur zulässig, wenn die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer gewahrt bleibt.

  • "Ordnung (vulgo: Leichtigkeit) des Verkehrs" ist kein Selbstzweck. Die aus dem Polizeirecht stammende Floskel "Sicherheit und Ordnung" zielt in beiden Partikeln immer und ausschließlich auf die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben der Bevölkerung ab. "Verzögerungen im Betriebsablauf" müssten also erstens eine logisch nachvollziehbare Auswirkung auf die menschliche Gesundheit haben, und zweitens muss diese dann auch noch so dramatisch sein, dass sie ortsspezifisch über das Maß an Hintergrundrauschen, das verkehrsbedingte Verzögerungen im Betriebsablauf auf die menschliche Gesundheit ausüben könnten, "erheblich" hinausgeht.

    M.W. wird in den ca. 300 Kommunen, die zwar gerne T30 hätten, es aber nicht kriegen, damit argumentiert, dass es an der dafür nötigen "Gefahrenlage" hapert. Ich vermute mal, dass es in diesen Kommunen aber selbstverständlich benutzungspflichtige Radwege gibt, deren Voraussetzung eben diese "Gefahrenlage" ist.

    Daher meine Frage, warum/ob "Gefahrenlage" nicht gleich "Gefahrenlage" ist.

    Soweit ich es bisher verstanden habe, liegt es nicht an der "Gefahrenlage", sondern an der Interpretation derselben.

  • Aber meine dumme Frage war, ob es "die eine" qualifizierte Gefahrenlage gibt, oder deren mehrere, je nach "Zweck". Und wie ich simon verstanden habe, wird da fröhlich unterschieden.

    Ja, klar: Weil die Verkehrsbehörden gerne die nervigen Radfahrer aus dem Weg schaffen wollen, drehen sie das so, wie es ihnen gerade passt und Menschen wie Simon müssen dann die Gerichte damit behelligen, das wieder einzukassieren.

    Es gibt ein interessantes Urteil des VG Braunschweig, das sich mit dem Ermessensspielraum der Verkehrsbehörden auseinandersetzt (ab Rn 49 und insbesondere ab Rn 59).

    VG Braunschweig, Urteil vom 16.04.2013 - 6 A 64/11 - openJur

  • Ja, klar: Weil die Verkehrsbehörden gerne die nervigen Radfahrer aus dem Weg schaffen wollen, drehen sie das so, wie es ihnen gerade passt und Menschen wie Simon müssen dann die Gerichte damit behelligen, das wieder einzukassieren.

    Es gibt ein interessantes Urteil des VG Braunschweig, das sich mit dem Ermessensspielraum der Verkehrsbehörden auseinandersetzt (ab Rn 49).

    VG Braunschweig, Urteil vom 16.04.2013 - 6 A 64/11 - openJur

    Das bedeutet doch aber, dass nicht die "fehlende Gefahrenlage" das Hindernis für T30 ist, sondern einfach der Unwille, T30 einzuführen/anzuordnen? Was soll dann eigentlich dieses Petitions-Getue, die StVO zu ändern? Die Stadt/Gemeinderäte der Pro-T30-Kommunen könnten m.E. T30 einfach anordnen, sie sind rechtlich gesehen die Vorgesetzten der Behörden?

  • Wenn aufgrund der Verkehrsbelastung keine besondere Gefahrenlage nachgewiesen werden kann, dann ist eine zuvor bestehende Benutzungspflicht unzulässig. Aber dann kann nach derzeitigem Stand auch T30 nicht rechtssicher begründet werden, wenn nicht ein anderer Grund vorliegt.

    Insofern zielt ja die Initiative der Kommunen gerade darauf ab, dass die Anordnung von T30 auch ohne den Nachweis der besonderen Gefahrenlage möglich ist. Die Einrichtung von T30 Zonen ist nach §45 auch nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich (keine Durchgangsstraße mit Relevanz für den überörtlichen Verkehr, nur in Wohngebieten).

    Wir haben hier in Stade einen Fall, über den gerade diskutiert wird: Da will die Stadt jetzt T30 im Rahmen eines "Verkehrsversuchs" anordnen. Davon habe ich abgeraten, weil ein Verkehrsversuch von der obersten Verkehrsbehörde (Land Niedersachsen) genehmigt werden muss. Wenn das Ministerium den "Versuch" der Stadt Stade ablehnt, sich an geltendes Recht zu halten, bleibt es am Ende vermutlich bei T50 und dafür kommt [Zeichen 239] [Zusatzzeichen 1022-10]. Das ist nur in der Theorie besser als [Zeichen 240], weil quasi alle weiterhin auf dem Kackweg fahren würden (außer die, die es schon jetzt nicht tun).

    In diesem Fall halte ich T30 auch so für begründbar. Die Verkehrsbelastung liegt zwar mit max. 700 Kfz/h nur im Belastungsbereich II, aber die Fahrbahn ist nur 5,50 - 6,00 m breit, die Gehwege sind < 1,80m schmal, es gibt Linienbusverkehr und es ist ein Schulweg. Also definitiv kein Platz für eine separierte Radverkehrsführung und wegen des Fußgänger-Schülerverkehrs auch keine Möglichkeit, das Radfahren auf dem Gehweg zu erlauben (oder sogar vorzuschreiben wie bisher). Bei T30 wäre man mit der Straße allerdings nur noch im Belastungsbereich I > Mischverkehr ohne alternatives Angebot im Seitenraum und ohne "Schutzstreifen", die dort auch nicht hinpassen.

    Wenn ich mir das Braunschweiger Urteil anschaue, lese ich da vor allem, dass die Entscheidungen der Verkehrsbehörde gut und nachvollziehbar begründet sein müssen: Es muss deutlich werden, dass tatsächlich auf Grundlage der Vorschriften und technischen Regelwerke ein Ermessen ausgeübt und versucht wurde, den Konflikt für alle (!) Verkehrsteilnehmer bestmöglich aufzulösen. Dabei ist sicherlich T30 schon jetzt viel häufiger möglich als immer behauptet wird.

  • VG ist erste Instanz. Darauf kann man leider nicht allzu viel geben.

    Die flächendeckende Anordnung von T30 scheitert daran, dass §45 Begründungen im Einzelfall verlangt. Da kann sich eine Kommune nicht hinstellen und sagen: "Bei uns ist alles gefährlich!".

  • Ich vermute jetzt mal, dass aus dem Großraum München, westlich der Weltstadt, einige Foristen anmerken werden: "Oh doch! Bei uns machen die das!"

    Bingo, genau darauf will ich hinaus :)

    Anstatt bestehende Radwegbenutzungspflichten zu bekämpfen, indem man die Gefahrenlage verneint, könnte man doch auch die Gefahrenlage bejahen - gradezu bejubeln - und aufgrund dessen T30 fordern?

    Die Idee ist: Wo alle die extreme Gefahrenlage auf der Fahrbahn durch den Autoverkehr sehen (und das tun praktisch alle außer uns), da muss sie ja wohl zwangsläufig herrschen.

    Motto: Entweder Gefahrenlage oder nicht, beides gleichzeitig ist kompletter Bullshit. Und die Gefahrenlage verschwindet ja nicht dadurch, dass man die Radfahrer auf den Gehweg zwingt: Sie ist entweder da, oder sie ist es nicht.

    Hat das schon mal jemand versucht?

  • Hat das schon mal jemand versucht?

    Ja, wie oben beschrieben. Wenn es darum geht, T30 anzuordnen, ist die Gefahrenlage plötzlich nicht mehr so außergewöhnlich und dann kann man bei der Gelegenheit gleich darauf hinweisen, dass deswegen auch die [Zeichen 240] weg müssen.

    Leider kommt dann oftmals [Zeichen 239] [Zusatzzeichen 1022-10], weil inkompetente Verkehrsbehörden es nicht kapieren, dass man da auf der Fahrbahn sicherer ist. Dann wird argumentiert, dass man auch auf solche Radfahrer Rücksicht nehmen müsse, die sich nicht trauen, auf der "Straße " [sic.] zu fahren (Verkehrsbehörden, die so denken, nennen die Fahrbahn immer "Straße", "Autofahrbahn" oder gleich "Autostraße").

    Interessanterweise nehmen die selben Verkehrsbehörden ungern Rücksicht auf diejenigen, die auf diesen Ruinen nicht fahren wollen. Denen ist es auch egal, dass die Gehwegradler sowieso auf dem Gehweg fahren werden, egal, welche Schilder man da hingehängt hat. Aber zumindest hier vor Ort ist es der Verwaltung wichtig, dieses gefährliche Fehlverhalten zu legalisieren und "niemanden in die Illegalität zu zwingen" (OT).

    Muss man dabei gewesen sein, sonst glaubt einem das keiner. ^^

  • Der Artikel ist leider hinter einer Bezahlschranke

    Auch die TAZ thematisiert diese Statistik jetzt: Weit weg von der Vision.

    Am Frankfurter Tor sind laut der Statistik besonders viele Radfahrer betroffen. Als Maßnahme soll da jetzt ein Pop-Up-Radweg "verstetigt" werden.

    Hat da jemand Einblick in die Unfallursachen ? Wenn das Abbiegerunfälle sind ist diese Maßnahme eventuell nicht zielführend.

  • Der Artikel ist leider hinter einer Bezahlschranke

    Ups, ich konnte den noch lesen.

    Jetzt bin noch etwas erfreuter, dass ich noch lebe: 4 von den 10 Unfallkreuzungen sind auf meinen Alltagswegen.


    Wobei ich diese 4 Kreuzungen als Radfahrer nicht als ungewöhnlich auffällig erlebe. Da erlebe ich an anderen Kreuzungen Schlimmeres.

  • In den ersten Absätzen des § 45 sind einige Rechtsgüter genannt. Es kann also unterschiedliche Gefahrenlagen geben. Ob es die auch bezüglich eines Punktes, hier denke ich an die Sicherheit, geben kann, möchte ich auch vorsichtig bejaen. Als Beispiel nenne ich Längerillen in der Fahrbahn. Da kann man das Risiko eines Sturzes durch einen glatten Blauweg verringern. Mit einem Tempolimit würde es nicht gehen. Eine Maßnahme muss halt auch geeignet sein. Das folgt jedoch nicht aus dem Verkehrsrecht sondern aus dem Verwaltungsrecht.

    Die Leichtigkeit wird jedoch nicht als zu schützendes Rechtsgut genannt. Sie wird aus der Ordnung hergeleitet. Man darf sie also nicht mit der Leistungsfähigkeit oder Flüssigkeit verwechseln. Es sind Situationen gemeint, in denen sich die Verkehrsteilnehmer nicht schon intuitiv ordnungsgemäß verhalten.

  • In den ersten Absätzen des § 45 sind einige Rechtsgüter genannt. Es kann also unterschiedliche Gefahrenlagen geben. Ob es die auch bezüglich eines Punktes, hier denke ich an die Sicherheit, geben kann, möchte ich auch vorsichtig bejaen. Als Beispiel nenne ich Längerillen in der Fahrbahn. Da kann man das Risiko eines Sturzes durch einen glatten Blauweg verringern. Mit einem Tempolimit würde es nicht gehen. Eine Maßnahme muss halt auch geeignet sein. Das folgt jedoch nicht aus dem Verkehrsrecht sondern aus dem Verwaltungsrecht.

    Danke für die Hinweise. Dann ist also die Flüssigkeit des Verkehrs gar kein durch §45 (9) geschütztes Rechtsgut.

    Meistens wird die "besondere Gefahrenlage" aus der Tatsache konstruiert, dass auf der Fahrbahn auch Autos fahren. In der Rechtsprechung wird anerkannt, dass eine besonders hohe Verkehrsbelastung eine besondere Gefahr darstellen kann. Jedenfalls habe ich schon einige Urteile gesehen, wo auf das Diagramm der ERA mit den vier Belastungsbereichen verwiesen und ab Belastungsbereich III die Voraussetzung des §45 (9) als erfüllt angesehen wird.

    Auf die Frage, ob die Benutzung des Radweges tatsächlich geeignet ist, das Risiko zu senken, wird leider zu selten eingegangen.