Forschung zum "toten Winkel" aus NL

  • Du hättest wenigstens den Abstract lesen können. Da steht drin, welche Dinge die Entscheidung des Fahrers in den Spiegel zu schauen maßgeblich beeinflussen.

    Das habe ich ehrlich gesagt nicht verstanden.

    Meiner Meinung nach liegt es daran, dass die Wahrnehmungsfähigkeit des Lkw-Fahrers in komplexeren Kreuzungsbereichen oft überfordert ist. Das geschieht durch eine Vielzahl von Lichtsignalen, Verkehrszeichen, Wegweisern, verkehrsfremder Werbung und sonstigen Verkehrsaufkommen im Sichtfeld des Fahrers. Dies alles muss innerhalb kürzester Zeit geistig verarbeitet werden. Das geht aber nicht mit hinreichender Sicherheit.

  • Sehr überraschend! Und warum nutzen sie den Spiegel nicht?

    Das konnte mir der Verkehrssicherheitsexperte der Polizei auch nicht sagen, den ich danach gefragt habe, warum bei dieser "Toter-Winkel-Übung" der Rampenspiegel und der Weitwinkelspiegel mit schwarzen Säcken zugehängt sind.

    Ich bat ihn, etwas pädagogisch Wertvolleres sich auszudenken, als mit Schulkindern solche Spielchen zu machen. Er gab sich jedoch überzeugt von seiner Methode:

    "Bei der Übung sitzen die Kinder nach und nach auf dem Fahrersitz des LKW's und sehen ihre Klassenkamerad*innen, die auf dem ausgebreiteten Tuch sitzen, mal mehr und mal weniger, je nachdem ob Rampenspiegel und Weitwinkelspiegel ausgepackt sind oder nicht."

    So werde den Kindern vermittelt, dass es schon mal vorkommen könne, dass ein LKW-Fahrer, der in Eile ist, beim Abbiegen nicht genau mitbekommen habe, dass er andere Verkehrsteilnehmer gefährdet, weil er nicht die Zeit gehabt habe, alle ihm zur Verfügung stehenden Spiegel zu kontrollieren. Die Kinder sollten lernen, nicht darauf zu vertrauen, dass andere Verkehrsteilnehmer immer alles richtig machen und deshalb in gefährlichen Situationen lieber auf Nummer Sicher gehen, sprich: stehen bleiben.

    Hört sich ja alles scheinbar ganz vernünftig an. Aber warum wird nicht mehr dafür getan, den LKW-Fahrern beizubringen, ihre Außenspiegel zu benutzen und beim Abbiegen tatsächlich nur Schritttempo zu fahren, wie vorgeschrieben? Das würde ja außerdem von der Polizei geleistet, sagte der Experte.

    Im Prinzip stimme ich dem Polizisten ja zu, allerdings ist der Begriff "Toter Winkel" sehr schlecht gewählt. Er müsste eigentlich "Wo der LKW-Fahrer oft nicht hinguckt Winkel" heißen. Und man könnte durch einen intelligenten Abbiege-Assistenten Abhilfe schaffen. Bei einprogrammierter Route erkennt das System rechtzeitig die Abbiege-Situation und lässt von vornherein kein höheres Tempo zu als max. 4-5 km/h.

  • Das habe ich ehrlich gesagt nicht verstanden.

    Meiner Meinung nach liegt es daran, dass die Wahrnehmungsfähigkeit des Lkw-Fahrers in komplexeren Kreuzungsbereichen oft überfordert ist. Das geschieht durch eine Vielzahl von Lichtsignalen, Verkehrszeichen, Wegweisern, verkehrsfremder Werbung und sonstigen Verkehrsaufkommen im Sichtfeld des Fahrers. Dies alles muss innerhalb kürzester Zeit geistig verarbeitet werden. Das geht aber nicht mit hinreichender Sicherheit.

    Wenn es so ist, dann muss für den LKW-Verkehr gelten, dass die Fahrzeughersteller, die Speditionsunternehmen und Fahrer*innen verpflichtet sind, entsprechende Hilfen einzusetzen.

    Im Prinzip sind ja auch der Rampenspiegel und der Weitwinkelspiegel eine solche Hilfe, die früher einmal nicht üblich waren, heute aber Vorschrift sind.

    Siehe zum Beispiel dieses Foto von einem LKW-Oldtimer:

    https://www.mbgalerie.org/gallery-image/39289/1.jpg

    Immerhin ganz langsam, im Schneckentempo tut sich was: "Laut der EU-Verordnung 2019/2144 zur Typgenehmigung, die am 16. Dezember 2019 verkündet wurde, sind Abbiegeassistenten (dort: „Totwinkel-Assistent“) ab 6. Juli 2022 für neue Fahrzeugtypen und ab 7. Juli 2024 für neue Fahrzeuge verpflichtend."

    Bundesministerium für Digitales und Verkehr vom 3.6.22

    BMDV - Fragen und Antworten zum Abbiegeassistent

    "Kleiner Schönheitsfehler": Obwohl die Technik dafür längst entwickelt und erprobt ist und zur Verfügung steht und bei manchen LKW auch bereits verbaut ist, gibt es keine automatische Bremsung in einer Gefahrensituation, in der der Abbiegeassistent eine Gefahr erkennt.

    Diese Filmszene zeigt, wie ein Abbiegeassistent mit automatischem Bremsystem einen Abbiegeunfall verhindert:

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    Vorgeschrieben ist jedoch lediglich ein Abbiegeassistent mit Warnsignal.

  • Das habe ich ehrlich gesagt nicht verstanden.

    Meiner Meinung nach liegt es daran, dass die Wahrnehmungsfähigkeit des Lkw-Fahrers in komplexeren Kreuzungsbereichen oft überfordert ist. Das geschieht durch eine Vielzahl von Lichtsignalen, Verkehrszeichen, Wegweisern, verkehrsfremder Werbung und sonstigen Verkehrsaufkommen im Sichtfeld des Fahrers. Dies alles muss innerhalb kürzester Zeit geistig verarbeitet werden. Das geht aber nicht mit hinreichender Sicherheit.fah

    Laut Stude: Die Wahrscheinlichkeit, dass Fahrer in ihre Spiegel schauen erhöht sich durch
    - Vorfahrtsregelungen die Konflikte möglich machen (also nix Ampel oder freilaufender Rechtsabbieger)

    - Zebrastreifen

    - ohne vorausfahrendes Fahrzeug, das das gleiche Manöver fährt.

    - bei sichtbaren Radlingen / Fußgängern

    - bei guter Sicht

    - bei jüngeren Fahrern

    - wenn der Fahrer nicht durch Infotainment, Handy, whatever abgelenkt war

    - wenn das Fahrzeug einen Blick durch die rechte Tür erlaubt (ein Teil hatte tief runter gezogene Fenster rechts)

    - das Fahrzeug keine Totwinkelkamera hat

    - und die Zeitspanne zwischen Stillstand und Abbiegen recht kurz ist

    Deine Vermutung der Überforderung teile ich. Das deckt sich ja auch damit, dass jüngere Fahrer da besser abschneiden. Bleibt noch die Frage nach der Moral von der Geschicht. Die kann eigentlich nur darin liegen, den Schwerlastverkehr so weit wie möglich zu reduzieren, und für den Rest so gut wie es geht bauliche und technische Lösungen zu finden. Am Ende ist das ja eine gesellschaftliche Entscheidung, die verbleibende Betriebsgefahr dieser Fahrzeuge als Restrisiko zu akzeptieren. Ideen zur Minimierung:

    - Verpflichtend einzubauende Assistenzsysteme auf dem Stand der Technik incl. Nachrüstpflicht

    - regelmässige Simulatorschulung für Berufskraftfahrer

    - Anpassung von Vorfahrtsregelungen und Kreuzungsdesigns

  • - regelmässige Simulatorschulung für Berufskraftfahrer

    Dazu kommt, dass die Speditionen kaum noch Leute finden, die LKW-Fahrer werden wollen. Von den einheimischen jungen Leuten will es keiner mehr machen, sodass mehr und mehr osteuropäische Fahrer die LKWs lenken. Die will man dann nicht auch noch abschrecken. :/

  • Dies alles muss innerhalb kürzester Zeit geistig verarbeitet werden. Das geht aber nicht mit hinreichender Sicherheit.

    Das geht mir ja schon mit dem PkW so. Die Frage ist: Was macht man mit dieser Erkenntnis?

    - Ignorieren und 365.000 Verkehrsverletzte/Jahr "in Kauf" nehmen?

    - Drauf reagieren als wärs Corona?

    Antwort: Tankrabatt :)

  • Das geht mir ja schon mit dem PkW so. Die Frage ist: Was macht man mit dieser Erkenntnis?

    Ist das denn nicht offenkundig?

    Regulierung reduzieren! Und alles raus aus dem unmittelbaren Kreuzungsbereich, was dort nichts zu suchen hat (Wegweiser, Werbung).

    Radfahrer hinein in den Fahrbahnbereich. Um den Vorrang von Radfahrern zu beachten, muss der Lkw-Fahrer sie nicht während des Abbiegevorganges sehen. Es reicht völlig, wenn er weiß, dass sie da sind, weil er sie gerade zuvor noch überholt hat.

    Und nein, das verhindert nicht alles. 100%ige Sicherheit gibt es nicht.

  • Laut Stude: Die Wahrscheinlichkeit, dass Fahrer in ihre Spiegel schauen erhöht sich durch
    (...)

    - das Fahrzeug keine Totwinkelkamera hat

    Das hört sich ein bisschen so an, wie: Wenn keine "Totwinkelkamera" vorhanden ist, dann benutzt der Fahrer aufmerksamer seine Außenspiegel.

    Man könnte auf die Idee kommen, es sei besser, erst gar keine "Totwinkelkamera" zu verbauen.

    Aber was genau ist eine "Totwinkelkamera"?

    In der entsprechenden EU-Regelung-151 wird der Begriff "Toter-Winkel-Informationssystem" benutzt:

    "Diese Verordnung gilt für das Toter-Winkel-Informationssystem von Fahrzeugen der Klassen ..."

    in: 1. GELTUNGSBEREICH hier der Link: https://eur-lex.europa.eu/eli/reg/2020/1596/oj

    in 0.3 ist aber auch der Begriff "Totwinkel-Assistent" zu finden.

    (ebenda)

    Und in der Überschrift heißt es:

    "UN-Regelung Nr. 151 – Einheitliche Bestimmungen für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen im Hinblick auf das Blind Spot Information System for the Detection of Bicycles [2020/1596]"

    (ebenda)

    Und in Kapitel 5 SPEZIFIKATIONEN wird die Abkürzung BSIS benutzt:

    "5.1.

    Jedes Fahrzeug, das mit einem BSIS ausgestattet ist, das der Definition des vorstehenden Absatzes 2.3 entspricht, muss die Anforderungen der Absätze 5.2 bis 5.7 dieser Regelung erfüllen."

    (BSIS als Abkürzung für Blind Spot Information System for the Detection of Bicycles)

    Wenn ich die Verordnung richtig gelesen habe, dann gibt es drei Signale, die alle rein optisch sein können. Sie müssen nicht außerdem akustisch sein.

    1. Informationssignal: Es befindet sich ein Fahrradfahrer im Gefahrenbereich, sodass es beim Abbiegen zu einem Unfall kommen wird.

    2. Warnsignal: Das Warnsignal wird dann aktiviert, wenn die/der LKW-Fahrer*in das Lenkrad einschlägt und ein parallel fahrendes Fahrrad überfahren werden könnte.

    3. Ausfallsignal: Das Ausfallsignal leuchtet dann auf, wenn zum Beispiel die Sensoren verschmutzt sind, oder aus einem anderen Grund der Abbiegeassistent nicht arbeitet.

    Eine akustische Warnung ist nicht vorgeschrieben. Vielleicht deshalb, weil von den Erstellern der Verordnung die Gefahr gesehen wird, dass der Totwinkel-Assistent dazu führen kann, dass sich die/der Fahrer*in sagt, solange nichts piept, kann ich fahren, ohne dass ich gucken muss?

    Was mich überrascht hat: In dem ganzen Verordnungstext geht es anscheinend nur darum, Fahrradfahrer*innen zu schützen. Fußgänger*innen-Schutz wird nicht erwähnt.

    Warum wird das Warnsignal erst dann aktiviert, wenn der LKW-Fahrer abbiegen will? Ein integriertes Navigationssystem mit einprogrammierter Fahrtroute würde es möglich machen, das Warnsignal noch ein bisschen früher zu aktivieren, also schon bevor ein Einschlagen des Lenkrads erfolgt.

  • 100%ige Sicherheit gibt es nicht.

    Es gibt das Ziel Vision Zero:

    "Für den DVR ist die Vision Zero seit 2007 Grundlage seiner Verkehrssicherheitsarbeit. Die Vision Zero ist eine Sicherheitsstrategie, deren Wurzeln in der chemischen Industrie im 19. Jahrhundert liegen. Seitdem wurde sie viele Male adaptiert.

    Inhalt der Vision Zero

    Ziel der Vision Zero sind keine Getöteten und Schwerverletzten im Straßenverkehr. Um das zu erreichen, muss ein sicheres Verkehrssystem geschaffen werden. Laut Vision Zero ist das notwendig, da der Mensch, als zentraler Bestandteil des Straßenverkehrssystems, nicht fehlerfrei handelt, auch, weil seine physische Belastbarkeit begrenzt ist. Verkehrsmittel – Pkw, Lkw, Fahrräder, Busse, Motorräder – aber auch die Infrastruktur müssen also so gestaltet werden, dass Unfälle mit Getöteten und Verletzten vermieden werden."

    https://www.dvr.de/ueber-uns/vision-zero (DVR=Deutscher Verkehrssicherheitsrat)

    Was mich ärgert ist, dass die Verkehrssicherheitsexperten und die Entscheider in Politik und Verwaltung zu einseitig das technisch Machbare im Blick haben, um die Verkehrsunfallgefahr zu reduzieren. Statt den Autoverkehr zu reduzieren und zu verlangsamen, wird oft so getan, als müsse es so sein, dass zum Beispiel auf Autobahnen unbegrenzt schnell gerast werden dürfe. Statt Straßen zu verengen und die erlaubte Höchstgeschwindigkeit zu reduzieren, wird ein möglichst hohes Tempo angestrebt (z. B. Tempo 100 auf Landstraßen anstatt Tempo 60 als generelle Höchstgeschwindigkeit. Oder Tempo 50 innerorts anstatt Tempo 30. Oder Tempo 30 in Wohngebieten anstatt Tempo 15).

    Mit deutlich niedrigeren Tempolimits auf Autobahnen max. 80, auf Landstraßen max. 60, innerorts max. 30 und in Wohngebieten max. 15 könnte ein großer Schritt in Richtung Vision Zero gelingen.

    (Und beim Abbiegen von KFZ innerorts maximal Schrittgeschwindigkeit!)

    Das würde einen Abbiegeassistenten nicht überflüssig machen, im Gegenteil, der ist dann die richtige Ergänzung, um noch näher an Vision Zero heranzukommen.