Dieses Bild von vorgestern von Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann, wie er in voller Montur auf einem nicht sehr breiten, aber dafür sehr kurvigen Weg geschätzte 20 Zentimeter vom Abgrund entfernt mit sicher nicht unerheblicher Geschwindigkeit gefahren ist, hat mir ein grundsätzliches Problem vor Augen geführt: egal wie gut oder schlecht Infrastruktur ausgeführt wird (auf dem Foto eher zweiteres), solange sich eine Mehrheit der Radfahrer verhält wie anno 1937, wird es keine wirklichen Fortschritte geben.
Es mag regional unterschiedlich sein, aber hier im Süden Deutschlands ist diese Unsitte auch 75 Jahre nach Kriegsende immer noch weit verbreitet. Egal ob auf Radwegen, schmalen Nebenstraßen, breiten Hauptstraßen oder sogar Feldwegen, man sieht von zehn Radfahrern vielleicht einen oder maximal zwei mit ausreichendem Abstand zum rechten Rand fahren. Das ist mitnichten ein Problem der älteren Generation, die das wirklich noch so gelernt hat, selbst junge agile Rennradfahrer drücken sich bei 40+ km/h an den rechten Rand, genau wie Jugendliche mit Rädern aller Art, junge Eltern mit Nachwuchs im Anhänger und sogar Fahrer mit Lastenrädern, denen man ewige Gestrigkeit nun wirklich nicht nachsagen kann.
Die Probleme sind bekannt und regelmäßig in Lokalzeitungen und Polizeiberichten zu lesen: Stürze durchs Abkommen ins Bankett, gefährliche Überholmanöver und Zusammenstöße auf zu engen Radwegen, "Übersehen" im Längs- und Querverkehr durch PKW-Fahrer, die aus Gewohnheit auf die Fahrbahn und nicht deren Rand schauen. Die zahlreichen Engüberholmanöver mit zu hoher Geschwindigkeit und die dadurch erzeugte Angst und Verzicht aufs Radfahren schaffen es gar nicht in die Medien, sind aber unzweifelhaft vorhanden, wie uns die Coronakrise mit reduziertem PKW- und erhöhtem Radverkehr gezeigt hat.
Zusätzlich führt dieses Verhalten zu einer falschen Weichenstellung: wenn man für einen normalen Radweg wie im oberen Bild die dort korrekten Seitenabstände annimmt, ist man da bei geschätzten 250 cm Breite mit 75 cm Radfahrerbreite, 50 cm Sicherheitsabstand nach rechts und 100 cm Abstand zum Gegenverkehr als Mindestmaß (in Kurven und Abfahrten noch mehr!) schon bei 225 cm und damit fast der gesamten Breite, Gegenverkehr würde 350 cm benötigen. Wenn sich aber alle so an den Rand drücken und auf der Linie balancieren, die man eigentlich gar nicht überfahren darf, dann erscheinen auch 250 cm noch als ausreichend und es wird gar nicht erst mit vier Metern geplant... besonders absurd, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass ein einzelner Fahrstreifen für eine Richtung auf einer normalen Straße schon 2,75 bis 3,50 Meter breit ist und das niemand als zu breit für KFZ von 1,60 bis 2,55 Meter Breite ansehen würde. Autofahrer fahren auch höchst selten mit dem rechten Rad im Rinnstein oder halb auf dem Bankett, obwohl es für die wesentlich ungefährlicher ist als für Radfahrer.
Okay, wie löst man dieses Problem nun? Mein Gefühl sagt mir, dass die meisten Leute das gar nicht absichtlich machen, sondern unbewusst. Vielleicht, weil sie das Rechtsfahrgebot falsch interpretieren, oder es sich von Vorbildern (Eltern, Freunde, Polizei) so abgeschaut haben, oder den Abstand zwischen sich und den Autos erhöhen wollen (und ihn ironischerweise dadurch sogar verkleinern). Aufklärung müsste also ausreichen - aber wie stellt man das an, ohne wie ein Handzettelwerfender Missionar dazustehen bzw. sogar Abwehrreaktionen zu provozieren (niemand mag gerne gesagt bekommen, dass er sich jahrelang falsch verhalten hat)? Informationsangebote online erreichen dagegen die Zielgruppe höchstwahrscheinlich nicht, wenn man nicht ordentlich Geld für Werbung in die Hand nimmt. Bliebe noch der Weg über Verbände wie den ADFC, bei dem es aber wohl laut verschiedener Meinungen stark auf den jeweiligen lokalen Ortsverband und dessen Einstellung ankommen soll. Der politische oder gerichtliche Weg erscheint mir schließlich völlig sinnlos, da man niemandem vorschreiben kann, sich nicht selbst zu gefährden, und weder das Fahren in der Mitte noch am Rand verboten ist.
Wie seht ihr das? Habt ihr vielleicht sogar schon Erfahrung mit solcher Aufklärung, außerhalb des eigenen Freundes- und Bekanntenkreises? Wie waren die Reaktionen der Leute?