Desillusionierung ist ein Konzept, das mir in Zeiten einer Pandemie allgegenwärtig erscheint. Ich bin desillusioniert, dass wir diese Pandemie mit einem wissenschaftlichen Ansatz in den Griff bekommen hätten, ich bin desillusioniert, dass ich in absehbarer Zeit eine Impfung bekomme, ich bin desillusioniert, dass wir die Klimakrise überhaupt in irgendeiner Art und Weise in den Griff bekommen, wenn wir noch nicht einmal ein relativ einfach umzusetzendes Maßnahmenpaket hinbekommen, um im Vergleich zur Klimakrise überschaubare Pandemie in den Griff zu bekommen.
Und in diesen leicht depressiv angehauchten Trott reiht sich die Stadt Lüneburg perfekt ein.
Nachdem ich im Herbst 2018 zu Lischen-Radieschen von Hamburg nach Kiel gezogen bin, sollte es planmäßig zweieinhalb Jahre später nach Abschluss ihres Studiums wieder näher an Hamburg rangehen. Lisa-Marie wollte gerne in ihre Heimat nach Niedersachsen, ich wollte eine regelmäßige ICE-Anbindung mit überschaubarer Fahrzeit nach Hamburg, da kommt man dann zwangsläufig bei Lüneburg raus. Außerdem hat Lüneburg eine bezaubernde Altstadt, die den Krieg besser überlebt hat als den vorherigen Salzabbau, denn die Löcher, die das weiße Gold hinterlassen hat, lassen einige Häuser eindrucksvoll schief stehen.
Was mich bei meinen sporadischen Besuchen in der Hansestadt an der Ilmenau auffiel, waren abseits der schiefen Häuschen und mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Gässchen die vielen Fahrräder, die hier im Stadtbild zu sehen waren. Wo in anderen Städten der angeblich überlebenswichtige Kraftverkehr hofiert wird, reihten sich hier an den Seitenstreifen, auf den Plätzen und vor den Häusern voll Fahrradbügel aneinander. Das war für mich der vorsichtige Inbegriff einer Art Fahrradstadt, vielleicht nicht vergleichbar mit Groningen, Utrecht, Amsterdam, Kopenhagen, aber hier sind Radfahrerïnnen willkommen, hier fuhren Alltagsradlerïnnen neben Rennradlerïnnen, dort sauste der Lieferdienst einer hippen Burgerkette vorbei und überholte das Lastenrad einer Buchhandlung namens Lünebuch.
Monat fuhr Monat besuchte ich pflichtbewusst die Critical Mass Lüneburg, kurbelte eine Stunde mit der örtlichen Fahrrad-Gang durch den Montagabend und sprang wieder in den ICE nach Kiel.
Nun wohnen wir seit zweieinhalb Monaten in Lüneburg und ich bin… desillusioniert.
Das hier ist keine Fahrradstadt.
Ganz im Gegenteil: Für mich als jemand, der wirklich gerne Fahrrad fährt und aus Hamburg und Kiel schon so einiges gewohnt ist, rangiert Lüneburg noch einmal mit einem gewissen Abstand hinter Hamburg.
In Büdelsdorf, in Wedel, in Hamburg, in Kiel, überall dort, wo ich bislang längere Zeit gewohnt habe, war Radfahren nicht so ganz der Hit. Diese Städte waren gespickt mit schlechter, aber benutzungspflichtiger Infrastruktur, unfreundlichen Kraftfahrern, untätigen Behörden und einer Polizei, die im Falle eines Unfalles offenbar zunächst mal Klingel und Speichenreflektoren des Unfallopfers kontrolliert. Aber: Man kam halt doch mehr oder weniger gut durch die Stadt. In der Regel verlief in Fahrtrichtung rechts eine Art Infrastruktur, meistens ein benutzungspflichtiger Radweg, mitunter auch ein Radfahrstreifen oder ein Schutzstreifen oder man fuhr auf der Fahrbahn und die Ampelschaltungen waren zwar im Regelfall unfreundlich gegenüber nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern, aber ich legte für mich ein einigermaßen okayes Tempo an den Tag. Selbst in Hamburg denke ich mir mit bald drei Jahren Abstand: Es geht noch deutlich schlimmer, es war für eine Großstadt mit unterschiedlichen Zuständigkeiten schon okay.
Nun also Lüneburg. Ich halte mich mal zurück und schmeiße lediglich eine Ecke als Symbolfoto rein:
Gut, der direkte Weg über die Bundesstraße 4 ist gefährlich. Das ist lustig, denn bei der Straße im Hintergrund handelt es sich mitterweile gar nicht mehr um die Bundesstraße 4, sondern um eine stinknormale innerörtliche Straße, die nach der Verlegung der Bundesstraße 4 auf eine Umgehungsstraße sogar gar nicht mal soooo stark befahren ist, dass man hier nicht queren könnte. Stattdessen werden Fußgänger auf dem Weg durch dieses Naherholungsgebiet angehalten, doch Bitteschön einen Umweg von 1,2 km zu latschen; Bettelampel inklusive.
Das ist interessant, denn das macht natürlich kein Mensch. Aber man wollte wohl damals irgendwas machen (vulgo: Aktionismus zeigen, und hat diese Schilder der Einfachheit halber stehen lassen. Mittlerweile sollte es das Verhältnis vom Fahrbahnverkehr zum querenden Verkehr wenigstens im Sommer zulassen, eine Bedarfsampel zu installieren, aber die kostet halt Geld und das muss man auch wollen und einfach Fußgänger auf eigene Gefahr queren zu lassen geht natürlich auch.
Und dieser Geist der autogerechten Stadt weht immer noch durch Lüneburgs Gassen.
Wo ich in Hamburg oder Kiel, ja sogar in Berlin oder im Ruhrgebiet einen benutzungspflichtigen Radweg in Fahrtrichtung vorfinde, muss ich in Lüneburg überraschend oft auf der falschen Straßenseite fahren. Da gibt’s dann nur einen Weg, der sich mal hier und mal da irgendwie so durch die Gegend schummelt, dann in einer Unterführung verschwindet und woanders wieder auftaucht und im Endeffekt kann ich an überraschend vielen Stellen sehen, wo ich dann wohl mit dem Rad abbleibe.
Es gibt Bettelampeln ohne Ende, sogar an Stellen, an denen ich tatsächlich einfach nur entlang der Vorfahrtstraße geradeaus fahren möchte, aber damit das Warten nicht so nervig wird, wurden den Bettelampeln irgendwann gelbe Haltegriffe spendiert — mit dem Ergebnis, dass ich bei der Nutzung von Bettelknopf und Haltegriff den übrigen Radfahrern auf dem engen Geh- und Radweg zwischen Fahrbahn und Hauswand erst recht im Weg stehe. Vielleicht hat niemand damit gerechnet, dass pro Umlauf auch mal zwei Radfahrer queren könnten.
Nach dem bebettelampelten Abbiegen kann ich in der nächsten Straße dann gucken, wie ich mich dort im Sinne der Straßenverkehrs-Ordnung wieder auf der Fahrbahn oder aber auf dem benutzungspflichtigen Radweg einfinde und eine Kreuzung weiter ist das Abbiegen dann dermaßen kompliziert, dass ich als neu zugezogener tatsächlich erst einmal absteigen und mir einen Überblick verschaffen muss, wie ich denn eigentlich vom benutzungspflichtigen Radweg geradeaus fahren kann, während der Fahrbahnverkehr fröhlich an mir vorbei saust.
Wenn wir mit dem Fahrrad zum Einkaufen wollen, landen wir auf dem Weg dahin beinahe zwangsläufig auf der linken Straßenseite, sofern wir denn nicht irgendwelche großen Umwege fahren wollen. Dann beginnt das übliche Ritual: Kraftfahrerïnnen möchten links abbiegen, achten auf den entgegenkommenden Kraftverkehr, fahren dann in einer Lücke an, stellen fest, oh Mist, Radfahrer aus der falschen Richtung, legen eine Vollbremsung hin, stehen dann dem entgegenkommenden Fahrbahnverkehr im Weg und müssen sich entscheiden: Lieber die beiden Radlinge gefährden oder vom Fahrbahnverkehr anhupen lassen? Ihr kennt das Ergebnis.
Natürlich kann ich auch einfach auf der Fahrbahn bleiben, kommt aber halt nicht so gut an. Mitunter werde ich vom Kraftverkehr mit tosenden Fanfaren darauf hingewiesen, dass irgendwo ein Radweg durch die Windschutzscheibe sichtbar ist, selbst wenn es sich überhaupt nicht um einen Radweg handelt, sogar von der Polizei bekam ich schon mal den Hinweis, doch bitte im Interesse meiner eigenen Sicherheit auf dem für den Radverkehr freigegebenen Gehweg zu kurbeln. Der Betreiber des öffentlichen Nahverkehrs heißt hier praktischerweise wie In Kiel KVG, da muss ich mich gar nicht groß umgewöhnen, denn die Leute fahren hier ähnlich robust wie in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt.
Und dann gibt es hier dermaßen viele Straßen, bei denen ich mich echt nur noch wundern kann. Megaviel Platz für den motorisierten Verkehr auf der Fahrbahn, Fußgänger und Radfahrer teilen sich ein schmales Handtuch namens benutzungspflichtiger Fuß- und Radweg, und im Verlauf der Straße werde ich auf dem Fahrrad angehalten, mehrmals die Straßenseite zu wechseln und wenn ich das nicht möchte, werde ich auf der Fahrbahn abgedrängt und im Endeffekt…
… endet alles damit, dass heute einer der wenigen warmen Tage dieses Frühlings ist und ich absolut gar keine Motivation habe, aufs Fahrrad zu steigen. Es ist einfach nur noch nervig.
Ich werde versuchen, hier in unregelmäßigen Abständen Bilder reinzuschmeißen, wie sich das Radfahren in Lüneburg so anfühlt.