„Fahrrunter“-Kampagne

  • Ich arbeite jetzt seit knapp fünf Jahren für eine Firma in Berlin und sitze in einem gemieteten Büro in Hamburg.

    Vor Corona musste Ich einmal die Woche nach Berlin.

    Für innerdeutsche Kundenbesuche habe Ich eine BC 100. Damit fallen auch die Taxifahrten bei Diensreisen praktisch weg.

    Für jede Dienstreise in Europa plane Ich den sinnvollsten Weg.

    Da kommen dann schon mal solche Sachen raus wie, Zug nach Aachen zu Kunde 1, Zug von Aachen nach London, 2 km zu Fuß. Zug nach Birmingham zu Kunde 2, mit dem Kollegen aus GB im Auto nach Wolwerhampton zu Kunde 3 und dann mit dem Flieger zurück nach Hamburg.

    Ins Büro gehts mit dem Rad...

  • Das Verhalten der Leute wird sich danach richten, was für sie am bequemsten ist. Und solange es bequem ist, ins Auto zu steigen und die 1,5 km zum Bäcker zu fahren, wird das halt auch die häufigste Fortbewegungsart sein.

    Dieses Verhalten wird ja auch noch dadurch verstärkt, indem die Bequemlichkeit des Autoverkehrs gefördert wird, indem man Zufußgehen und Radfahren unbequemer macht. Gerade auf dem Land gibt es "Radwege" in den Ortschaften, die kann sich in Hamburg niemand vorstellen. Die schlimmsten "Radwege", die ihr aus Hamburg kennt, sind dort der Normalfall und in der Regel ist das auch alles benutzungspflichtig, weil die Aufgaben der Verkehrsbehörde hinsichtlich des Radverkehrs dort komplett ignoriert werden.

    Und es wird immer so getan, als würden auf dem Land alle Leute grundsätzlich nur weite Strecken fahren. Aber auch dort werden kurze Wege völlig unnötig mit dem Auto zurückgelegt. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass Autofahren auf dem Land noch normaler und auch weniger stressig ist als in der Großstadt, weil das Auto sowieso zum Einkaufen und den Weg zur Arbeit in Ermangelung eines nutzbaren ÖPNV immer benutzt wird.

    Ich habe meine Kindheit und Jugend in den 1970er und 1980er Jahren in einem 800-Einwohner Dorf in Südniedersachsen verbracht. Bis zu meinem 16. Lebensjahr war ich im Alltag nur mit dem Schulbus und mit dem Fahrrad unterwegs. Freizeit nach der Schule war Fahrradfahren oder mit dem Fahrrad zu Freunden zu fahren. Aber dann begann auch bei mir die Motorisierung und ich habe überhaupt nicht mehr darüber nachgedacht, dass vorher auch alles mit dem Bus und mit dem Fahrrad ging. Mit 16 war es das Moped und mit 18 das Auto, das war damals überhaupt nicht infrage gestellt und das Umdenken hat noch lange nicht bei allen begonnen, sondern das ist auch heute für viele immer noch genauso normal wie es für mich vor 35 Jahren war.

    Die Busanbindung auf dem Dorf war in der Tat grottig, aber man konnte damit zur Schule fahren und auch wieder nach Hause. Wenn man abends noch mal in die nahe Stadt wollte, fuhr aber überhaupt kein Bus mehr. Die letzte Verbindung aus der Stadt nach Hause ging um 18:15 Uhr. Mit dem Fahrrad waren es 9km in die nächste Stadt, wo ich auch zur Schule gegangen bin. Das war machbar, aber im Winter (gab es damals noch) kam das auch nicht in Frage.

    Später hat meine Mutter eine Stelle bei der Stadtverwaltung angenommen und dann hat sie mich morgens immer im Auto mit zur Schule genommen. Immerhin bin ich öfter von ihrem Arbeitsplatz zur Schule gegangen als dass sie mich mit einem Umweg direkt vor der Schule abgesetzt hat. Dass wir auch gemeinsam mit dem Bus fahren konnten, war überhaupt kein Thema.

    Damals gab es in dem Dorf auch noch zwei Bäcker (mit eigener Backstube und keine Fertig-Backmischungs-Erhitzer), eine Poststelle (auf einem Bauernhof: da musste man klingeln, wenn man etwas abgeben oder abholen wollte), je eine Filiale der Volksbank und der Sparkasse, einen kleinen Lebensmittelladen und einen Fleischer. Von alledem ist heute nur noch der Fleischer übrig geblieben, der aber auch gerade überlegt, den Laden ganz zu schließen und nur noch die Wochenmärkte zu bedienen und den Partyservice aufrecht zu erhalten (auch gerade schwierig, wenn es keine großen Partys gibt). Wenn der aus Altersgründen dicht macht, wird es garantiert keinen Nachfolger geben, sondern dann ist auch dieser Familienbetrieb, der über mehrere Generationen geführt wurde, Geschichte.

    In die Garagen, die man in den 1970er Jahren gebaut hat, passen die heutigen Karren nicht mehr rein und daher steht alles an der Straße. Dort, wo wir früher Fußball gespielt haben, und unsere Tricks auf dem Fahrrad oder Skateboard geübt haben, stehen jetzt Autos.

  • Und es wird immer so getan, als würden auf dem Land alle Leute grundsätzlich nur weite Strecken fahren. Aber auch dort werden kurze Wege völlig unnötig mit dem Auto zurückgelegt. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass Autofahren auf dem Land noch normaler und auch weniger stressig ist als in der Großstadt, weil das Auto sowieso zum Einkaufen und den Weg zur Arbeit in Ermangelung eines nutzbaren ÖPNV immer benutzt wird.

    Das ist mir tatsächlich auch aufgefallen. Das ganze Dorf ist hier gerade mal so groß, dass ich beim Joggen quasi binnen einer Stunde einmal rumlaufen kann und es fällt schwer, innerhalb des Dorfes einen Weg zurückzulegen, der wesentlich länger als einen Kilometer ist. Trotzdem nimmt man für jeden Pups das Auto, egal ob zum besagten Supermarkt auf der grünen Wiese (0,9 Kilometer), zum Aldi in der Stadtmitte (250 Meter) oder für Verwandschaftsbesuche innerhalb des Dorfes. Dass man für einen Wocheneinkauf auch für kurze Strecken aufgrund des Kofferraums das Auto nimmt, das kann ich ja noch nachvollziehen, aber bei den berühmten Wegen wie morgens zum Bäcker oder für einen Liter Milch zum Supermarkt, da denke ich mir: Da nehme ich lieber das Rad.

    Vielleicht liegt das aber auch daran, dass es hier ja genügend Parkplätze gibt und man grundsätzlich weder im Stau noch vor Ampeln herumstehen muss.

  • Vielleicht liegt das aber auch daran, dass es hier ja genügend Parkplätze gibt und man grundsätzlich weder im Stau noch vor Ampeln herumstehen muss.

    Und Radfahrer sind einem dort auch nicht im Weg :)

    Ich glaube, dass die Auto-Fixiertheit auf dem Land noch viel größer ist als in den Städten. Dafür gibt es auch nachvollziehbare Gründe, weil das Auto tatsächlich in mehr Fällen alternativlos ist als in der Stadt. Aber es ist deswegen noch lange nicht komplett alternativlos.

    Und wie du auch sagst, ist das Autofahren auf dem Land noch viel bequemer als in der Stadt: Einen Parkplatz findet man immer und meistens auch direkt vor der Tür. Es gibt keinen Stau und wenig Verkehrsstress. Das ÖPNV-Angebot erfordert umfangreiche Planung. Wer vielleicht noch zwischendurch mal von einem Bus in einen anderen umsteigen muss, ist direkt aufgeschmissen, wenn es zu Verspätungen kommt.

    Wenn ich mit dem Bus von der Schule nach hause gefahren bin, dann habe ich während der letzten Unterrichtsminuten meine Sachen gepackt und habe mit dem Schulgong den Klassenraum verlassen. Schulschluss war um 13:00 Uhr und um 13:13 Uhr fuhr der Bus von einer knapp 1km entfernten Haltestelle. Der nächste Bus fuhr um 15:30 Uhr. Da haben die Lehrer mal doof geguckt, wenn sie "nur ganz kurz" noch was loswerden wollten, aber das ging einfach nicht anders.

  • Ich möchte hier mal eine Lanze für die Landbevölkerung brechen, es wird auch viel Radl gefahren.

    Aber ganz klar, das Auto zu benutzen ist leicht, weil immer ein Stellplatz zur Verfügung, normalerweise auch vor der Tür, wo man hin will und im Gegensatz zur Stadt ist es auch deutlich schneller wie mit dem Rad, wenn es nicht kurze Strecken sind.

  • Nicht zu vergessen, dass die Benutzung des Autos ja "offiziell" keinen Schaden anrichtet. In unserer Wahrnehmung unterscheidet sich das Autofahren nicht vom Zufuß-Gehen.

    Leider wird durch den EAuto-Hype nur das Abgas-Problem berührt. Die Tatsache, dass man überflüssigerweise mind. 1 Tonne bewegt und mind. 10 qm Platz braucht, wird noch nicht mal diskutiert. Das soll alles so bleiben.

  • Dass wir auch gemeinsam mit dem Bus fahren konnten, war überhaupt kein Thema.

    Auch heute noch bedeutet "Autofahrendürfen" für einen Jugendlichen Freiheit. Mit dem Rad oder Bus "darf" man nicht fahren, man "muss". Aber mit dem Auto "darf" man fahren.

  • Und Radfahrer sind einem dort auch nicht im Weg :)

    Ich glaube, dass die Auto-Fixiertheit auf dem Land noch viel größer ist als in den Städten. Dafür gibt es auch nachvollziehbare Gründe, weil das Auto tatsächlich in mehr Fällen alternativlos ist als in der Stadt. Aber es ist deswegen noch lange nicht komplett alternativlos.

    Das Auto ist ist nicht alternativlos!

    Selbstverständlich ist es möglich für die Menschen ohne Auto zu leben. (Haben sie übrigens schon seit Jahrtausenden getan. Und solche Ereignisse, wie zum Beispiel der Dreißigjährige Krieg, der rund ein Drittel der Menschen in vielen europäischen Ländern das Leben gekostet hat, ist ja nicht durch den Mangel an Autos verursacht worden.)

    Und tatsächlich leben auch heute im "Autoland Deutschland" auch auf dem Land Menschen ohne Auto!

    Die Aussage, das Auto sei "alternativlos", ist letztlich auch ein fieses Stück Ausgrenzung dieser Menschen und ihrer möglichen Ansprüche an eine autofreie Verkehrsinfrastruktur.

    Beispiel: "Ich wünsche mir einen dichteren Takt bei der Omnibusanbindung!"

    Oder auch einfach nur: Ich wünsche mir auch eine Omnibusanbindung an Samstagen. (Man beachte auch die blau markierte Ferienregelung!)

    Siehe dieser Fahrplan aus dem Landkreis Schaumburg. Für viele Ortschaften auf dem Fahrplan ist der angegebenen Bus 2121 die einzige ÖPNV-Anbindung:

    Soll die Antwort von Poilitik und Verwaltung lauten: "Das Auto ist alternativlos!"

    Ich vermute, so hast du es nicht gemeint - aber die Gefahr ist latent vorhanden, dass man in Anbetracht unzureichender Angebote für autofreie Mobilität darauf verfällt, das Auto als "alternativlos" zu bezeichnen.

    Man machte es den Autolobbyisten zu einfach, wenn man Ihnen die Behauptung durchgehen ließe, das Auto sei "alternativlos".

    Das Gegenteil ist richtig:

    Nur eine autofreie Gesellschaft ist eine zukunftsfähige Gesellschaft.

    Übrigens: Zeigen nicht gerade die Corona-Beschränkungen, dass es sich auch mit deutlich weniger Autoverkehr und Flugverkehr und deutlich weniger sonstigem Reiseverkehr gut leben lässt? Das soll jetzt aber nicht bedeuten, dass ich den abgedruckten Fahrplan wegen seiner wenigen Verbindungen loben will. ;)

  • Mir würde es schon reichen, wenn der Autoverkehr sich innerhalb geschlossener Ortschaften den Leuten, die dort wohnen und sich dort bewegen, unterordnen müsste. Aber selbst das ist leider schon "zuviel verlangt" und führt zum Aufschrei.

  • Und all dies hat nicht »sich entwickelt«, sondern ist die Folge von bewussten Entscheidungen. Von politischen Entscheidungen, motiviert von wirtschaftlichen Interessen.

  • Interessant, dass eigentlich niemand aus der so genannten Fahrradblase die Kampagne toll findet.

    Das ist, glaube ich, leicht erklärbar: Weil "die aus der Fahrradblase" täglich mit ganz anderen Problemen kämpfen als die KfZ-Fahrer.

    Wenn ich als KfZ-Fahrer (wie in Indien z.B.) an jeder zweiten grünen Ampel trotzdem auf Null abbremsen müsste, weil dort ein LkW quer steht, oder trotz Vorfahrtsstraße ständig wegen einbiegenden anderen Autos bremsen müsste, wären die Radfahrer vermutlich mein kleinstes Problem. Ich kann aber kilometerlang mit dem Auto ungestört durch München (und vermutlich Bremen) fahren, außer roten Ampeln und Staus von anderen Autos (aka Kollegen) behindert mich so gut wie gar nichts.

    Derartige Kampagnen und andere Aufforderungen nach einem fairen Miteinander suggerieren, als wäre eigentlich alles in Ordnung und alle wären auf Augenhöhe. Als würde die römische Stadtverwaltung ihre Bürger ermahnen "Seid nicht so streng mit euren Sklaven" und zu den Sklaven sagen "Seid zufrieden mit eurem Dasein. Wenn alle zusammen brav sind, bleibt alles so, wie es ist."

    Für die Bürger ist das OK, für die Sklaven eher desillusionierend. Das Ganze natürlich im übertragenen Sinne.

  • "Auf dem Land" ist es einfach vollkommen illusorisch den Leuten das Autofahren abzugewöhnen.

    Klar, für 10km benötigt man ohne Staus, Ampeln und weitgehend Tempo 100 mit dem Auto 10 Minuten, mit dem Pedelec halt 30. Das kann man sich dann auch nicht mehr sagen mit dem Fahrrad hat man 2 Euro gespart.

    Vielleicht möglich wäre eine Kampagne, den Zweitwagen abzuschaffen. Dafür muss es aber zumindest die Möglichkeit geben, kurzfristig doch noch ein zweites Auto zu bekommen. Entweder beim Nachbarn oder per Carsharing.

    Mit ordentlichem ÖPNV, das heißt für mich mindestens Stundentakt mit einer 2 Mittelzentren (Bahnhöfen) verbindenden Linie, kann man vielleicht einzelne regelmäßige Wege ohne Auto möglich machen, kurze Strecken vielleicht mit dem Rad, aber über 5km tut sich das dann halt doch niemand freiwillig außerhalb der Fahrradblase täglich an. Pedelecs dehnen den Aktionsradius deutlich aus, aber auch das muss man mögen, schließlich muss man sich dazu ja bewegen und kann nicht einfach nur sitzend den Fuß bewegen.

    Auf relativ viel und schnell befahrenen Straßen sehe ich ordentliche Radwege oder auch parallele, direkte Radverbindungen als sinnvoll an. Andererseits: Wer schöne Radwegeverbindungen sucht, der kann sie auch finden.

  • Wer will den Leuten das Autofahren abgewöhnen? Das ist so eine Aussage wie: "Es ist vollkommen illusorisch, den Leuten das Rauchen abzugewöhnen."

    Das hat man beim Rauchen so gelöst, dass es im öffentlichen Raum kein Rauchen mehr gibt. Und für die wenigen öffentlichen Sonderräume (Raucherkneipen) gibt es Eingangsbeschränkungen (kein Einlass für Minderjährige) und weitere Beschränkungen (stark eingegrenztes Speiseangebot).

    Das kann beim Autofahren ebenfalls sehr schnell mit vergleichbaren Auflagen umgesetzt werden.

    Es werden zwar immer mehr Menschen, die die Notwendigkeit für einen Paradigmenwechsel sehen, aber bislang ist es vor allem wichtig daran zu arbeiten, dass es nochmehr werden.

    Gleichzeitig muss das Konzept der unbegrenzten Raserei, dass immer noch in vielen Köpfen herumspukt, vertrieben werden.

    Dazu gehören auch solche aberwitzige Forderungen, wie sie einmal formuliert wurden: "1966 sagte Leber, „kein Deutscher soll mehr als 20 Kilometer von einer Autobahnauffahrt entfernt leben“." Wikipedia Artikel über den ehemaligen SPD-Verkehrsminister Georg Leber https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Leber

    Aberwitzig ist diese Forderung nicht etwa deshalb, weil sie nicht umsetzbar wäre (Ich fürchte wir sind schon sehr dicht dran) oder zu teuer etc. etc., sondern deshalb weil das eine immense Ressourcen-Verschwendung bedeutet und keine globale Perspektive bietet. Aber es gibt noch genug Menschen, die den nahen Autobahnanschluss als eine selbstverständliche Staatsleistung halten und jeden, der das kritisch sieht als unverbesserlichen Visionär abtut, wie es einst der Ex-SPD-Kanzler Schmidt getan hat.

    Vielleicht gehen diese Leute heute nicht mehr so weit, den nächsten Autobahnanschluss in maximal 20 km Entfernung einzufordern. (Brauchen sie ja auch vielfach gar nicht mehr einfordern.;))

    Umso mehr lieben diese Leute es, Menschen, die alternative Verkehrskonzepte entwerfen, vorzuwerfen, sie wollten die Menschen "umerziehen". Oder das angeblich "natürliche Freiheitsrecht zu Rasen" einschränken.

  • Hast du eigentlich gelesen, was ich geschrieben habe, Ullie ?

    Hab ich. Ich hab' mich halt maßlos geärgert über deine Aussage: "Dafür gibt es auch nachvollziehbare Gründe, weil das Auto tatsächlich in mehr Fällen alternativlos ist als in der Stadt." Da hilft es auch nicht, dass du im nächsten Satz relativierst mit: "Aber es ist deswegen noch lange nicht komplett alternativlos."

    Ganz häufig, wenn Verkehrsdiskussionen geführt werden, kommt dieses Gejammere "Aber wie soll ich denn ... meinen Kasten Mineralwasser ... das Kind zur Kita ... die Oma zum Doktor ... usw. usw." Und immer mit so einerr Vorwurfshaltung verbunden. Und da ist mir halt der Kragen geplatzt als ich den Eindruck hatte, Yeti ist jetzt auch vom "Autovirus infiziert".=O

  • Beitrag von krapotke (20. Juni 2020 um 23:23)

    Dieser Beitrag wurde vom Autor gelöscht (5. Januar 2023 um 10:55).
  • Zum Thema: Braucht man auf dem Land ein Auto?

    In der Sonntagsausgabe der hiesigen Regionalzeitung "Rheinpfalz" war heute eine Doppelreportage. Die Autorin war mit öffentlichen Verkehrsmitteln zweimal 2,5 Stunden unterwegs (alles leider nicht online).

    Erste Tour: vom Hbf Kaiserslautern nach Paris. Strecke mit dem Auto 462 km, Fahrzeit ca. 4.5 Stunden. Fahrt mit dem Zug 7.22 bis 9.51 Uhr (Paris Est), d.h. 2,5 Stunden.

    Zweite Tour: von Martinshöhe (südlicher Zipfel des Landkreises Kaiserslautern) nach Niederkirchen (nördlicher Zipfel des LK Kaiserslautern). Strecke mit dem Auto 44 km, Fahrtzeit ca. 40 Minuten. Fahrt mit ÖPNV: Abfahrt Anruf-Sammeltaxi (kennt man sowas in der Großstadt?) 10.45, Ankunft Bahnhof Landstuhl 11.21. Abfahrt Landstuhl mit der Regionalbahn 11.41, Ankunft KL Hbf 11.54. Abfahrt KL per Bus 12 35, Ankunft Niederkirchen 13.22. Fahrzeit 2,5 Stunden.

    Noch Fragen?

  • So völlig von der Hand zu weisen sind diese Einwände auch nicht. Es geht ohne Frage immer auch irgendwie anders. Ich würde auch ohne Wasseranschluss in meiner Wohnung irgendwie an Trinkwasser kommen. Nur wären die Alternativen umständlicher, teurer, zeitaufwändiger und unflexibler als der Wasserhahn in der Küche.

    In Kiel komme ich wunderbar mit dem Fahrrad zurecht. Hier liegen aber auch 99% meiner halbwegs regelmäßig angefahrenen Ziele im Radius von 10km einfache Wegstrecke. Damit kommt man auf dem Land im warsten Sinne des Wortes nicht weit. Zumindest nicht weit genug, um z.B. den Arbeitsweg (evtl. auch nur zum nächsten Bahnhof) oder den Arztbesuch oder den Kinobesuch oder den Vereinsabend oder oder oder zu bestreiten. Öffis verkehren zu unregelmäßig, sind eher auf Schülertransport ausgelegt und kosten, gerade wenn mehrere Leute fahren müssen, nicht gerade wenig Geld. Demgegenüber steht das eigene KFZ. Auch nicht gerade billig. Aber flexibel, pünktlich, sauber, witterungsgeschützt, selten überfüllt, selbstbestimmte Streckenwahl und Zwischenhalte, unkomplizierter Transport sperriger Güter... Wer dankt es denen, die aus politischen Gründen den unbequemen Weg ohne eigens Auto wählen? In der Regel wird man mitleidig belächelt.

    Das mit dem Trinkwasser ist ein interessantes Beispiel, wenn du es mal in die andere Richtung verkehrst: Das Beispiel erinnert mich an einen Spaziergang mit Bekannten im ländlichen Raum, der allerdings schon etliche Jahre zurückliegt. Wir kamen durch einen kleinen Ort mit rund 800 Einwohnern, dessen Straßen allesamt frisch aufgegraben waren, um den bereit liegenden dicken Betonröhren Platz zu bieten. Der Ort wurde kanalisiert.

    Ein paar Nachfragen bei Einwohnern ergab, dass damit keinesfalls alle einverstanden waren. Denn die Kanalisierung wurde verknüpft mit einer noch nicht lange zurückliegenden Gemeindereform und hohen Kosten, die auf die Gemeinde zukommen. Ohne die Gemeindereform wäre die Kanalisierung gar nicht möglich gewesen und einigen Einwohnern wäre das anscheinend lieber gewesen. Das Absaugen der Abwassersammelgruben auf den Grundstücken sah man als völlig unproblematisch an und viele waren der Überzeugung, dass es auch deutlich kostengünstiger gewesen sei, als das was jetzt an Kosten auf den Ort zukämen.

    Einige Jahre später erfuhr ich von der Geschichte der Kanalisation in meinem Stadtteil. Da spielte sich quasi dasselbe ab, nur mehrere Jahrzehnte früher.

    Vielleicht verdeutlicht dieser Vergleich, warum ich es für so wichtig halte, nicht den scheinbar unschlagbaren Argumenten für den privaten Autobesitz im ländlichen Raum nachzugeben. Klar gibt es diese Argumente, aber sie sind konsequent vom Ende her betrachtet allesamt nicht haltbar. Vielmehr dienen sie vielfach lediglich als Entschuldigung für die weiter oben von Malte so trefflich beschriebenen unhaltbaren Zustände bei der Autonutzung im ländlichen Raum.

    Andere Möglichkeit: Die Leute überzeugen, dass Tempo 120 oder — Gott behüte — 150 auf einer einfachen Überlandstraße trotz Schutzplanken eine dumme Idee sind. Nur: Wie? Mit Einsicht oder Kontrollen hat’s ja in den letzten Jahrzehnten nicht so richtig funktioniert und mir fehlt trotz des neuen Bußgeldkataloges der Glaube, dass sich das künftig ändern mag.

    Wenn du an dieser Stelle, der ortsansässigen Bevölkerung im ländlichen Raum zu verstehen gibst, du hättest ja grundsätzlich Verständnis dafür, dass sich manche Dinge ohne Auto nur schwer organisieren lassen, aber solche Missstände seien nicht hinnehmbar, dann hast du mit ein bisschen Glück noch Chancen erhört zu werden. Aber das kann sich schnell als "Zivilisations-Fassade" entpuppen.

    Wenn du jetzt noch einen Schritt weiter gehst, so meine Erfahrung, und zum Beispiel Omnibushaltestellen forderst, die so gebaut sind, dass der Omnibus nicht überholt werden kann, während er dort hält, oder Tempo 60 auf den Landstraßen forderst, damit der ÖPNV nicht benachteiligt ist gegenüber den Autofahrern. Und wenn du dann noch darauf aufmerksam machst, dass so was nicht mit Polizeikontrollen durchgesetzt werden müsste, sondern dass die Fahrzeuge so gebaut sein müssen, dass vorgegebenen Geschwindigkeitsbegrenzungen automatisch eingehalten werden, ...

    Dann kratzt du gewaltig an der Zivilisations-Fassade vieler Bewohner des ländlichen Raums.

    Das wollen sie so wenig hören wie manche der Bewohner in meinem Kanalisationsbeispiel die Vorteile der Kanalisation, wenn sie's aber erst mal hätten, dann würden sie es vermutlich auch nicht missen wollen, um noch einmal zurückzukehren zum Kanalisations-Beispiel.

    Übrigens laut destatis sind in Deutschland "97 % der Bevölkerung an die öffent­liche Kanali­sation angeschlossen". https://www.destatis.de/DE/Presse/Pres…lometer%20waren.

    Da gibt es noch einigen Nachholbedarf was den ÖPNV angeht.

    Eines der größten Hindernisse ist der private Autobesitz, vergleichbar mit der privaten Abwasser-Sammelgrube. Oder noch schlimmer. einer "Sickergrube". Die sind in Deutschland aus Umweltschutzgründen verboten, weil dabei das verschmutzte Abwasser im Boden versickert. Lediglich für Regenwasser ist das noch erlaubt.

    Welches Automodell mit einer Schmutzwasser-Sickergrube vergleichbar ist, überlasse ich mal der Phantasie der Leser.