ich möchte einmal an das Nachbarthema "Fridays for future" fordert die Verkehrswende anknüpfen und ganz frech fragen: Wie ist denn euer Gefühl hinsichtlich der Verkehrswende im Zusammenhang mit den ganzen Einschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus? Werden öffentliche Verkehrsmittel Zeiten wie diese überstehen?
Momentan fahren Busse und Bahnen auch nach Lockerung der Kontaktbeschränkungen größtenteils heiße Luft umher, die meisten ehemaligen Fahrgäste arbeiten entweder von zu Hause aus oder arbeiten gar nicht mehr oder fahren mit dem Auto zur Arbeit.
Während wir für Einkaufszentren, Supermärkte, Hochzeiten, Restaurants und Partys Konzepte erarbeiten, wie viele Menschen sich in einem Raum aufhalten dürfen, wo eine Maske getragen werden muss, fehlen uns für öffentliche Verkehrsmittel jegliche Ideen. Eine enge Bestuhlung und ein Hang zur Überfüllung ist ein systemimmanentes Merkmal öffentlicher Verkehrsmittel und bislang sein größter Vorteil: Viele Fahrgäste auf engem Raum bildeten die Grundlage für ein effizientes und umweltfreundliches Transportmittel.
Dieser Vorteil wird nun der große Nachteil der öffentlichen Verkehrsmittel: Es lassen sich keine anderthalb Meter Abstand einhalten ohne die Kapazität deutlich zu senken. Und ob Masken und eine regelmäßige Reinigung ausreichen werden?
Ich weiß nicht, wie in einem Bus mehr als zehn Fahrgäste transportiert werden sollen, ohne dass man sich zu sehr auf die Pelle rückt. In der Bahn müsste man bei 2+1-Bestuhlung die Kapazität auf 33 Prozent senken, bei 2+2 vielleicht sogar auf 25 Prozent. Momentan sieht es so aus, als ob wir sowohl für den Nah- als auch für den Fernverkehr auf der Schiene eine Reservierungspflicht bekommen, damit eine geringe Auslastung sichergestellt werden kann.
Und die Debatte über die Reservierungspflicht hört sich von mir schon wieder so an, als ob die Idee und die Umsetzung von Verantwortlichen geplant würde, die selbst noch gar nicht mit der Bahn gefahren sind. Wer weiß, vielleicht sind die ganzen Fotos mit Andi Scheuer in und vor der Bahn doch im Studio entstanden? Der Fairness halber sei angemerkt: Ich habe auch keine Ideen, wie man es besser machen könnte. Der öffentliche Nah- und Fernverkehr ist nicht für die Zeiten einer Pandemie gemacht.
Allerdings greift es zu kurz, auf den französischen TGV zu zeigen, der nur mit einer Reservierung betreten werden darf. Gerade der Aspekt der Reservierungspflicht macht den TGV in meiner Eisenbahn-Filterblase eher unattraktiv und umständlich, weil beispielsweise offenbar nach einem ausgefallenen Zug nicht einfach der nächste Zug benutzt werden darf. Der TGV ist außerdem ein sternförmig auf Paris zentriertes Verkehrsmittel mit äußerst wenigen Zwischenhalten und fährt teilweise auf eigenen Trassen abseits des Nah- und Güterverkehrs, dagegen wirkt ein ICE, der sich artig hinter der nächsten Bimmelbahn einreiht und zwar nicht zwar nicht an jeder Milchkanne hält, wohl aber an jeder Ansammlung von fünf Milchkannen, wie die reinste S-Bahn. Und diese unterschiedlichen Betriebskonzepte sind wohl auch der Grund, warum in Deutschland nur wenige ICE-Sprinter- und Nachtzug-Verbindungen reservierungspflichtig sind oder waren.
Natürlich kann man anfangen, erstmal Technik dagegen zu werfen und die Sache mit so genannten „smarten Lösungen“ zu regeln. Wenn ich mir anschaue, in welchen äonenlangen Zeiträumen die Bahn an ihrem Reservierungssystem schraubt, weil dahinter eine ganze Menge technischer Abhängigkeiten versteckt sind, ist das aber auch nichts, was jetzt in Monaten oder gar Wochen implementiert wird. Zumal die Reservierungspflicht spätestens im chronisch überfüllten Nahverkehr ad absurdum geführt wird: In den Stoßzeiten ist der Einstieg an bestimmten Bahnhöfen ohnehin nicht gewährleistet, beispielsweise morgens von Elmshorn nach Hamburg. Wenn jetzt die Kapazität auf 25 Prozent abgesenkt und eine Reservierungspflicht eingeführt wird, was wird wohl passieren, wie soll das funktionieren?
Muss ich mir für jede Fahrt eine neue Reservierung besorgen? Und wenn die 25 Prozent ausgeschöpft sind, habe ich halt Pech gehabt? Gut, für Pendler würde man sich sicherlich eine Dauerreservierung ausdenken — und wer zu den 75 Prozent gehört, die im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr zum Zuge kommen, der hängt dann seinen Job an den Nagel und bleiben zu Hause? Was passiert, wenn mal wieder ein Zug ausfällt, wenn mal wieder für acht Stunden aufgrund einer Bahnübergangsstörung kein Zugverkehr zwischen Hamburg und Elmshorn stattfindet, schiebt man dann alle sitzengebliebenen Fahrgäste in die letzten beiden Züge vor Betriebsschluss? Oder schlafe ich dann auf einer Luftmatratze im Bureau?
Weder ich noch andere Bahnfans aus meiner Filterblase sehen da eine vernünftige Lösung.
Bahnfahren würde eben nur im Fernverkehr funktionieren, wenn ich eben hin und wieder von einer Großstadt in die nächste fahren muss und mit genügend Vorlaufzeit eine Reservierung kaufen kann und auch noch einen Zug finde, der genügend freie Sitzplätze aufweist.
Und an diesen ganzen Problematiken hängen noch weitere Folgeprobleme: Der Nahverkehr ist aufgrund der ausbleibenden Fahrgäste während der Corona-Pandemie in eine existenzbedrohende finanzielle Schieflage geraten, beim Fernverkehr sieht es nicht wesentlich besser aus. Momentan trifft es primär den finanziell schlechter aufgestellten Busverkehr in kleineren Städten, aber es dürfte nur von der Dauer der Kontaktbeschränkungen abhängen, wann größere Betriebe und die ersten Eisenbahnverkehrsunternehmen ihre Ersparnisse aufgebraucht haben. Wenn aber insbesondere auf Nebenbahnen auf Grund des Kapazitätendeckels nur noch maximal ein Viertel der Fahrgäste fährt, wer soll denn so etwas sinnvoll finanzieren? Zumal die Auswirkungen auf die Verkehrswende ähnlich sind: Ob nun 75 Prozent der Fahrgäste aus der Bahn zurück ins Auto steigen oder die restlichen 25 Prozent auch noch, das macht dann gar keinen großen Unterschied mehr. Womöglich kehrt gar nicht jede Nahverkehrslinie aus dem Ferienfahrplan zurück, womöglich werden solche Bummelverbindungen wie Neumünster–Heide–Büsum oder Husum–St.-Peter-Ording für lange Zeit eingestellt wie in den 70er und 80er Jahren.
Am Dienstag treffen sich dann die so genannten Autobosse zu einem weiteren Autogipfel mit der Bundesregierung. Ich denke, es handelt sich um keine bösartige Unterstellung, wenn ich behaupte, dass die geplanten 10.000 Euro schwere Coronaprämie kommen wird. Nun fehlen mir sicherlich die notwendigen Fachkenntnisse zur Beurteilung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise auf die deutsche Automobilindustrie, aber ich habe den Eindruck dass wir insgesamt mit dem geplanten Maßnahmenpaket sowohl wie Verkehrswende als auch unsere Klimaschutzmaßnahmen ein weiteres Mal an die Wand fahren.
Was zum Beispiel im Maßnahmenpaket fehlt und viel zu wenig diskutiert wird, sind zum Beispiel weitere Erleichterungen für nichtmotorisierte Verkehrsmittel in unseren Städten. In Berlin schießen die Popup-Bikelanes geradezu aus dem Boden, andere Städte tun sich hingegen sehr schwer damit, mehr Platz für Fahrräder und damit gleichzeitig mehr Platz für Fußgänger zu schaffen. Hamburg lehnt solche Maßnahmen ab, denn man habe in Hamburg nicht genügend Platz. Ah. Ich habe auch noch nichts von einer Coronaprämie für Fahrräder gehört, um Arbeitnehmern einen weiteren Anreiz zu schaffen, künftig sowohl aufs Auto als auch auf überfüllte Verkehrsmittel zu verzichten und vielleicht wenigstens fürs Pendeln innerhalb einer Stadt aufs Rad zu steigen, um auf diese Weise einen kleinen Beitrag zur Eindämmung des Coronavirus zu leisten.
Das einzige, was ich momentan mitbekomme, ist der schnell dahergaloppierte Rechtsanspruch aufs Homeoffice, das dem Arbeitgeber aber natürlich auch ermöglichen wird, Teleheimarbeit aus betrieblichen Gründen abzulehnen. Nicht nur aufgrund des Beispiels mit dem Bäcker, der seinen Ofen nicht mit nach Hause nehmen kann, sondern auch weil es selbst in unserer angeblich so fortschrittlichen IT-Branche noch immer Bedenken gegenüber Teleheimarbeit gibt. Wenn ich aber für den Rest meines Lebens aus Kiel arbeiten könnte, müsste ich nicht jeden Tag nach Hamburg und zurück fahren, es bliebe also ein Platz in der Bahn frei. Bei meinem Arbeitgeber läuft es momentan sehr gut, obwohl wir quasi von einem auf den anderen Tag ins Home-Office gestolpert sind, aber ich weiß nicht, ob das bedeuten wird, dass wir jetzt dieses Konzept weiterführen, beziehungsweise irgendwann im Laufe des Jahres vielleicht nur noch drei Tage pro Woche ins Bureau kommen oder wie auch immer.
Mich betrifft das auch ein bisschen mehr, weil meine BahnCard 100 eigentlich Ende Juni ausläuft; eine neue müsste ich mir sicherheitshalber bis Mitte Juni bestellen. Ungünstigerweise habe ich eine BahnCard mit Kreditkartenfunktion, so dass die Prämienpunkte nicht nach 36 Monaten verfallen, so dass wir die angesparten Punkte irgendwann in eine Hochzeitsreise umwandeln zu können. Wenn ich aber auf eine BahnCard 25 mit Kreditkartenfunktion wechsle, ist der Aufwand deutlich höher, als einfach bei einer BahnCard 100 mit Kreditkartenfunktion zu bleiben. Es ist im Endeffekt eine Wette, ob ich in ein paar Wochen 3.962 Euro investiere für eine Fahrkarte investiere, die ich womöglich gar nicht mehr nutzen kann.
Vielleicht bleibt mir unter diesen ungünstigen Umständen auch nichts anderes übrig als ein fröhliches „Goodbye Greta!“: Wenn ich selbst für einen guten Gebrauchtwagen noch 10.000 Euro oben drauf bekomme, dann wäre ich ja schön blöd, mir nicht für 13.962 Euro einen kleinen Flitzer für den Arbeitsweg anzuschaffen. Man wird als nichtmotorisierter Verkehrsteilnehmer schon oft genug verkohlt und es widerstrebt mir, nun zum x-ten Mal der Doofe zu sein, weil ich kein Auto mehr habe.
Im Endeffekt läuft es halt wieder darauf hinaus, dass umwelt- und klimaschädliches Verhalten wieder finanziell gefördert wird, während umweltfreundliche Alternativen auf der Strecke bleiben. Denn öffentliche Verkehrsmittel scheinen nicht mit einer Pandemie in Einklang zu bringen sein. Während meine Nachbarn über Ostern und am verlängerten Maifeiertagswochenende ins Auto steigen, um Freunde und Verwandte (Kontaktverbot?!?) oder den nächsten Strand (Kontaktverbot?!?) zu besuchen, beschränkt sich der Aktionsradius nichtmotorisierter Verkehrsteilnehmer auf das unmittelbare Umfeld der eigenen Wohnung, sofern man nicht wie unsereins auch mal hundert Kilometer am Stück mit dem Rad fahren möchte.
Denn während es bis Anfang März noch hieß, man solle doch bitte unbedingt auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, werden wir nun angehalten, Busse und Bahnen nur dann zu nutzen, wenn es unbedingt notwendig ist.
Und ich fürchte, diese Krise werden öffentliche Verkehrsmittel sehr viel schwieriger überstehen als die Automobilindustrie. Denn im Auto ist man wenigstens vor dem Virus geschützt.