Beinahe an mir vorbeigegangen ist die Sperrung der nördlichen Kiellinie in Kiel. Diese Promenade verläuft direkt an der Kieler Förde vom Landeshaus bis Hoch in den Stadtteil Kiel-Wik und besteht aus unterschiedlichen Querschnitten. Der nördliche, momentan autofreie Abschnitt ist 16 Meter breit und beinhaltet einem 3,5 Meter breiten Parkstreifen, zwei Fahrstreifen von 4,2 Meter Breite (?), einem 1,6 Meter breiten Zweirichtungsradweg und einem 2,5 Meter breiten Gehweg. Das ist also eher keine Promenade zum Flanieren und Verweilen, sondern vor allem ein Laufsteg Fahrsteg für höherpreisige Autos, die dort am Wochenende im Sonnenschein hin und her gefahren werden.
Nun wird dort gebaut und man kam auf die Idee, die damit einhergehende Sperrung als „autofreie Kiellinie“ oder „Erlebnis Kiellinie Nord“ zu verkaufen und ein paar Sonnenliegen und Pflanzen aufzustellen. Ich hielt das zunächst für eine Mogelpackung, aber prinzipiell wurde in den letzten Wochen ein wirklich schöner Raum direkt am Meer mit ganz erheblicher gesteigerter Aufenthaltsqualität geschaffen. Dort war in den letzten Tagen echt viel los, beispielsweise wurde gestern das erste Kieler Lastenradrennen dort ausgetragen, nebenan fand das Klimacamp von Correctiv statt, während heute eine Klimaschutzwerkstatt zum Thema Mobilitätswandel, Nachhaltigkeit und Klimawandel bei schönem Wetter ans Wasser lockte.
Ein paar Fotos davon gibt es hier:
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Um zum Thema Radverkehr zurückzukommen: Es gab heute eine Podiumsdiskussion, die sich an einen Vortrag von Heiner Monheim anschloss, an dem unter anderem Vertreter von Greenpeace und dem VCD mit Monheim und dem Kieler Oberbürgermeister Ulf Kämpfer diskutieren konnten. Diese Debatte fand natürlich unter dem Vorzeichen des so genannten Klimaschutzpaketes statt, dass die Bundesregierung am Freitag vorgelegt hatte.
Diese Debatten verlässt man als Zuschauer immer mit dem wohligen Gefühl, dass wir das ja alles doch noch irgendwie in den Griff bekommen könnten, dass wir eigentlich auf einem ganz guten Wege wären und prinzipiell ganz gleich morgen früh sofort nach dem Aufstehen mit Klimaschutz und Mobilitätswende und allem drum und dran zu 500 Prozent anfangen. Zehn Minuten später steht man da und sieht betroffen den Vorhang zu, aber alle Fragen offen, denn irgendwie… kommt beim Klimaschutz ja eh nichts herum.
Ich kann den Herrn Kämpfer eigentlich gut leiden, er meint es umwelt- und klimapolitisch einigermaßen ernst und fährt selbst hinreichend viel Fahrrad, um die Missstände in seiner Stadt zu kennen. Aber trotzdem kriegen wir hier nach meinem Empfinden nicht genügend auf die Reihe.
Besprochen wurde beispielsweise die Stadtbahn, beziehungsweise StadtRegionalBahn, die Ulf Kämpfer selbst vor vier Jahren mit beerdigt hatte, weil sich die Umlandgemeinden nicht einig werden konnten — und nun plötzlich Auferstehung feiern soll, weil Fahrverbote für Dieselmotoren vor der Tür stehen. Und nun reden wir da ernsthaft drüber, ob womöglich 2030 oder gar schon 2025 der erste Zug durch Kiel fährt? In fünfeinhalb Jahren? Ich wohne erst ein knappes Jahr in Kiel, aber während dieser Zeit konnte ich einigermaßen eindrucksvoll die Debatte um die mögliche Bahntrasse in der Holtenauer Straße verfolgen. Der Einzelhandel ist gar nicht so ganz davon begeistert und sieht das natürlich traditionell kritisch, weil bekanntlich nur ein leerer Kofferraum einkauft und während der jahrelangen Bauphasen die Kunden ausbleiben. Und ich soll nun glauben, dass wir in den nächsten fünf Jahren eine Trasse durch die Straße ballern? Sorry: Ausgeschlossen. Abgesehen davon hat es natürlich ein gewisses Geschmäckle, mit der StadtRegionalBahn aufgrund der Dieselfahrverbote wieder um die Ecke zu kommen, obwohl das Konzept hinsichtlich Mobilität, Lebensqualität und Klimaschutz allein genügend Vorteile gebracht hätte.
Was aber in den nächsten Jahren passieren wird, ist der Ausbau der Bundesautobahn 21 hoch bis Kiel. Die wird eine ganze Menge zusätzlichen Kraftverkehr in die Stadt spülen und für weitere Verkehrsprobleme in der ohnehin einigermaßen überlasteten Innenstadt führen. Denn dieser zusätzliche Verkehr, der muss ja auch irgendwo parken, irgendwelche Klima- oder Stickoxidziele einhalten, irgendwo fließen. Puh. Aus dem Publikum meldete sich Unmut, ob man diese Autobahn angesichts des Klima- und Mobilitätswandels überhaupt brauche, ob man den Ausbau nicht stoppen könnte, weil darunter auch eine wertvolle Grünfläche abhanden käme, aber irgendwie ginge das wohl nicht mehr, weil das eben eine Bundesautobahn wäre — und dieses Geschenk könne man nicht ablehnen.
Dann kommt Möbel Kraft nach Kiel Höffner nach Kiel und bringt nicht nur Steuergelder, sondern noch mal zusätzlichen Verkehr in die Stadt, wird dabei eine Grünfläche vernichten, die bislang war sowieso nur eine Kleingartensiedlung mit begrenzter Lebensdauer war, aber eben eine Grünfläche und ein Lebensraum für die Natur. Das muss aber auch kommen, denn im Bürgerentscheid im Jahre 2014 waren 52 Prozent für eine Ansiedlung von Möbel Kraft. Da kann man nichts mehr machen.
Wir haben mit der Sprottenflotte ein Leihradsystem bekommen, das von Nextbike betrieben wird. Mittlerweile ist das wohl auch relativ beliebt und hat eine Menge zusätzlicher Stationen bekommen, aber ich sehe noch nicht so ganz den Grund zur Hoffnung, dass man daraus aus Preetz oder Eckernförde mit einem Leihrad (?) auf einem noch zu bauenden Radschnellweg (?) zur Arbeit nach Kiel fahren wird — zumal beide Städte ja relativ gut mit halbstündlich verkehrenden Eisenbahnverbindungen angebunden sind.
Ah, und Radwege? Klar, die Veloroute 10 ist bislang prima und wird mit der Verlängerung über die A 215 sicherlich noch attraktiver, gar keine Frage. Und ansonsten? Okay, die Radverkehrsinfrastruktur ist deutlich besser als in Hamburg und netter als in einer Menge anderer Städte, aber trotzdem nicht so der Kracher. Auch da soll nach Meinung des Podiums in den kommenden Jahren kräftig gedreht werden und auch da wird sich nach meiner Meinung erstmal nicht ganz so viel tun: Die Mühlen in der Verwaltung mahlen nunmal recht langsam. Bemängelt wurde beispielsweise der Radweg aus der Stadt Kiel heraus entlang der Eckernförder Straße, der wirklich in einem stellenweise absolut bemitleidenswerten Zustand ist — der aber nicht vollständig im Wirkungsbereich der Kieler Verwaltung liegt, sondern teilweise die Nachbarstadt Kronshagen zuständig ist. Man kann sich ja vorstellen, wie großartig die Zusammenarbeit bei einer Sanierung dieser nicht ganz unwichtigen Radverkehrsverbindung sein wird, gerade hinsichtlich eines eng getakteten Zeitrahmens.
Und sonst so? Klar, Kiel hat eine ganze Menge Fahrradstraßen, von denen aber eine ganze Menge auch einfach nur Parkplätze mit einem Fahrradpiktogramm in der Mitte sind. Kommt ein Kraftfahrzeug entgegen, gibt es Stress, will ein Kraftfahrzeug überholen, gibt es Stress, an Kreuzungen gibt es immer Herumgekasper mit § 10 StVO oder Rechts-vor-links-Ansätzen. Das ist alles nicht grundsätzlich schlecht und falsch, aber meiner Meinung nach auch noch nicht die total reine Geilheit, als dass man damit angeben könnte.
Man mag es leicht übersehen, aber die Stadt Kiel hat ja vor ein paar Monaten den Klimanotstand ausgerufen. Mir ist klar, dass viele Maßnahmen im Zuge dieses Klimanotstandes eher auf der Verwaltungsebene angesiedelt sind und in Ermangelung von Interesse nicht durch die Presse an die Öffentlichkeit gelangen. Aber ich frage mich schon, ob erneuerbare Energien und Solarzellen auf Dächern öffentlicher Liegenschaften, eine Erneuerung der Busflotte und neue Fähren so ganz das große Ding werden.
Mittlerweile liegen beispielsweise bis zu fünf Kreuzfahrtschiffe gleichzeitig in der Förde, fertigen an einem Tag rund 25.000 Fahrgäste ab, die anschließend den Bahnverkehr verstopfen (und keinen Landstromanschluss nutzen werden), in den kommenden Jahren werden fünf Schiffe gleichzeitig wohl keine Ausnahme sein).
Ich gehe nicht davon aus, dass Ulf Kämpfer dieses Plakat mit genau diesem Motiv an genau diesem Ort angebracht hat, aber das Bild wirkt in seiner Gesamtkomposition ziemlich dreist:
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Ja, ich versuche als Bürger dieser Stadt durchaus für das Klima zu kämpfen. Trotzdem feiern wir uns immer wieder dafür so viele Kreuzfahrtschiffe anzuziehen, die unsere Verkehrswege verstopfen, die CO2-Bilanz ruinieren und eine Menge Schadstoffe im Umfeld der Förde verstreuen. Gerade in diesem Zusammenhang etwas von Klimaschutz in den bevorstehenden Oberbürgermeisterwahlkampf einzustreuen finde ich mutig.
Und: Kämpfer wird von der Kieler FDP unterstützt, deren Ratsmitglied so langsam die Nase voll hat von „linksgrünen Verschwörungstheorien“ und „Klimahysterie“. Einerseits kann ich mir nicht vorstellen, wie mit einem solchen Bündnispartner, der sich eher um den Ausbau von Parkplätzen und Straßen sorgt, weitere Maßnahmen im Bereich Klimaschutz oder Verkehrswende auf die Beine gestellt werden soll — andererseits ist Kämpfer für mich gerade mit diesem Partner aus ebenjenem Grunde unwählbar. Pardon, aber wer sich mit Politikern einlässt, die von Verschwörungstheorien und Klimahysterie fabulieren, kann es mit Klimaschutz nicht ernst meinen.
Und so fürchte ich, dass die autofreie Kiellinie wohl auch in Zukunft vor allem ein Experiment geblieben sein wird. Im nächsten Sommer wird sich der übliche kraftfahrzeugige Trott am Wochenende wieder eingespielt haben und Spaziergänger werden sich nicht mehr daran erinnern, wie ruhig die Kiellinie ohne den ganzen Kraftverkehr nebenan war, welche immense Steigerung der Aufenthaltsqualität mit baustellenbedingten Straßensperrung, ein paar Sitzbänken und Blumenkübeln zu erreichen war.
Eigentlich echt schade.