20. September: #sichermobilleben

  • Heute ist also dieser europaweite Aktionstag unter dem Stichwort #sichermobilleben, an dem die Polizei primär nach telefonierenden, nicht angeschnallten oder anderweitig abgelenkten Verkehrsteilnehmern fahndet: Europaweite Verkehrssicherheitsaktion "sicher.mobil.leben - Ablenkung im Blick"

    Ich habe mir mal die Veranstaltung am Jungfernstieg angesehen und es war mal wieder sehr erhellend.

    Ich näherte mich aus der Europa-Passage kommend und durfte erstmal beobachten, dass ein abbiegender Linienbus auf dem tollen Radweg am Jungfernstieg drei Radfahrer auf einmal „übersah“. Kein Wunder: Jegliche Sichtbeziehungen zwischen Radfahrern auf dem Radweg und abbiegenden Linienbussen und Taxis wurde von zwei parkenden Lieferwagen auf dem Radweg unterbunden — direkt vor dem Wagen der Polizei.

    Ja, schade, schon wieder „übersehen“. Klar, wie soll ein Busfahrer bei diesen Sichtverhältnissen auch Radfahrer erkennen können? Anhalten, aussteigen, gucken, einsteigen, weiterfahren? Geht halt nicht. Und dementsprechend wird dann eben mit unangemessener Geschwindigkeit abgebogen. Die Erklärung dazu liefert die Polizei freundlicherweise im direkten Gespräch: Das Gehirn nimmt nicht wahr, dass dort etwas sein könnte, weil man nicht hingucken kann, also denkt das Gehirn, da wäre auch überhaupt nichts. So einfach ist das.

    Ich sprach dann doch mal einen der beiden Beamten an, ob man sich angesichts des heutigen Verkehrssicherheitstages nicht mal dieser beiden Lieferwagen annehmen könnte. Ich staunte: Die beiden Fahrer waren gar nicht so dreist, dort einfach so zu parken, nein, die beiden Fahrer hatten bei den Beamten nachgefragt und sich die mündliche Erlaubnis zum Falschparken eingeholt. Toll. Sorry.

    Wir beobachteten dann beide noch ein paar Radfahrer, die sich mit abbiegenden Taxis anlegten, aber der Beamte sah die Sache anders als ich: Auch Radfahrer müssten Rücksicht nehmen. Die Lieferwagen hätten Waren angeliefert, die wichtig für Verbraucher und insbesondere Touristen wären, die müssten irgendwo parken, denn die nächsten Lieferantenparkplätze, so rechnete er mir vor, wären in der Dammtorstraße oder oben an der Petrikirche — und die, das wusste er auch, wären überdies regelmäßig belegt.

    Das ist ja alles schön und gut, aber führt doch komplett am Problem vorbei: Wenn hier am Jungfernstieg dringend Parkplätze für Lieferanten nötig wären, dann könnte man ja diesen tollen Radweg endlich mal entfernen und zwei oder gar drei Lieferantenparkplätze einrichten. Und man müsste eben die vorhandenen Lieferantenparkplätze freihalten. Aber es kann doch nicht ernsthaft einfach hingenommen werden, dass Radfahrer hier irgendwie absteigen und schieben sollen, damit Lieferanten auf dem Radweg parken können, weil die Parkplätze für Lieferanten belegt sind. Es. Will. Mir. Nicht. In. Den. Kopf.

    Der komplette Radweg will mir nicht in den Kopf, auch wenn ich die grundlegende Problematik verstehe: Der rechte Fahrstreifen ist ein Bussonderfahrstreifen. Wenn es einen Bussonderfahrstreifen gibt, dann möchte die Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung gerne, dass Radfahrer nicht in der Fahrbahnmitte kurbeln müssen, sondern fordern entweder einen Radweg oder eine Freigabe des Bussonderfahrstreifens für den Radverkehr. Eine solche Freigabe kam hier nicht in Frage, weil man nicht wollte, dass Radfahrer den Busverkehr ausbremsen, wenn sie dort zum Rathausmarkt rechts abbiegen, also musste ein Radweg her, der den Radverkehr aufnimmt, an einer Stelle über den Bussonderfahrstreifen führt, an der meines Erachtens nicht mehr § 9 Abs. 3 StVO gilt, anschließend wieder mit § 10 StVO auf die Fahrbahn führt. Da ist der Radverkehr ohnehin schon angeschmiert, selbst wenn niemand auf dem Radweg parkt.

    Aber gut. Leider empfahl mir mein Gesprächspartner lediglich, doch einfach eine Eingabe an die Bezirksversammlung zu formulieren, dann verlegte er sich auf Whataboutismus und zählte auf, wie viele Radfahrer er schon bei rotem Licht über die Ampel fahren sah und wie viele telefoniert haben und so weiter, wedelte dabei kräftig mit § 1 StVO. Naja. Ich habe mich dann mal lieber verzogen.

    Es passt insofern aber auch wieder ins Gesamtbild: Weil Lieferwagen und Kraftfahrer nunmal irgendwo parken müssen, wird Falschparken großzügig toleriert, denn irgendwo müssen die ja nunmal parken. Das ist auch dann okay, wenn direkt vor den Augen der Polizei im Minutentakt Radfahrer gefährdet werden, denn für Radfahrer gilt § 1 StVO, da ist dann also absteigen angesagt.

    Am Nebentisch wurde derweil diskutiert, warum Radfahrer trotz Radweg mitten auf der Straße führen und ich habe nicht so richtig mitbekommen, ob die Beamtin dort die Rechtslage aus § 2 Abs. 4 StVO richtig wiedergegeben hatte. Irgendwie klang das auch so als ob ein vorhandener Radweg selbstredend verwendet werden müsste, wozu wäre der denn sonst da und so. Habe das aber nur mit einem halben Ohr mitgehört — aber es passt irgendwie ins Gesamtbild, das die Hamburger Polizei in den letzten Wochen nach meinem Empfinden abliefert.

    Bin ich froh, dass ich nicht mehr in dieser Stadt wohne.

  • (...) Die Erklärung dazu liefert die Polizei freundlicherweise im direkten Gespräch: Das Gehirn nimmt nicht wahr, dass dort etwas sein könnte, weil man nicht hingucken kann, also denkt das Gehirn, da wäre auch überhaupt nichts. So einfach ist das. (...)

    ;) Den merk ich mir, wenn ich das nächste mal ein Blauschild nicht sehen will und deshalb angehalten werde.

  • Ich staunte: Die beiden Fahrer waren gar nicht so dreist, dort einfach so zu parken, nein, die beiden Fahrer hatten bei den Beamten nachgefragt und sich die mündliche Erlaubnis zum Falschparken eingeholt.

    Die Polizei darf sich nicht nach eigenem Gutdünken die StVO ausser Kraft setzen. Was die Beamten können: Den Lieferwagenfahrern zusichern, dass sie vom Opportunitätsprinzip gebrauch machen werden.
    Dagen hilft: Vor den Augen der Polizisten ein Foto machen und der Bussgeldstelle zuschicken.

  • Die Polizei darf sich nicht nach eigenem Gutdünken die StVO ausser Kraft setzen. Was die Beamten können: Den Lieferwagenfahrern zusichern, dass sie vom Opportunitätsprinzip gebrauch machen werden.
    Dagen hilft: Vor den Augen der Polizisten ein Foto machen und der Bussgeldstelle zuschicken.

    Am besten mit den anwesenden Beamten auf dem Bild.

    ... also denkt das Gehirn...

    Das wäre ja schon mal ein Anfang :)

  • ;) Den merk ich mir, wenn ich das nächste mal ein Blauschild nicht sehen will und deshalb angehalten werde.

    Das halte ich aber grundsätzlich für eine sinnvolle Erklärung: Wenn ich etwas nicht sehen kann, weil die Sicht dahin versperrt ist, seien es Litfaßsäulen, Straßenbegleitgrün oder parkende Kraftfahrzeuge, dann vermutet der Kopf eben, dass da auch nichts ist.

  • Aber bei Radfahrern ist das dann angeblich nicht so, weil sie in der gleichen Situation nicht denken sollen, da wäre nix, sondern sicherheitshalber absteigen und schieben und den §1 vor sich hinmurmeln sollen.

    Also sind Radfahrer doch keine Menschen, sondern eine eigene Spezies.

    Zumindest für die Polizei.

    bye
    Explosiv smilie_be_131.gif

  • Ich hatte in den vergangen Wochen noch mal ein paar Diskussionen zu dieser Kontrolle geführt und muss da wohl mit einem Missverständnis aufräumen:

    Ich finde solche Kontrollen prima. Wirklich. Bitte mehr davon. Rein vom Gefühl her wird ein wesentlicher Teil dieser ganzen „Überseh“-Vorfälle von unaufmerksamen Kraftfahrern verursacht, die nebenbei noch am Handy zugange sind. Ich hatte das Problem in seiner krassesten Ausprägung an meinem früheren Wohnort in Hamburg-Eidelstedt: Da wurde an der Autobahn gebaut, die kreuzende Kieler Straße war drum hoffnungslos verstopft, also packen die Leute im Stau ihr Handy aus und legen es anschließend bis zur Ankunft am Ziel nicht mehr aus der Hand. Das war echt heftig.

    Und nein, ich will auch weder Radfahrer und Fußgänger freisprechen, was diese Thematik angeht: Jedwede Verkehrsteilnehmer, die halbblind durch die Gegend eiern, sollten sich mal überlegen, ob das wirklich sinnvoll ist.

    Aber ich finde es blöd, dass die Hamburger Polizei in den letzten Wochen in eine Art Aktionismus verfallen ist, andauernd Fahrradkontrollen mit Kamerateams im Schlepptau veranstaltet und so tut, als wäre es ein total großes Problem, dass Radfahrer auf der falschen Straßenseite oder über rote Ampeln fahren. Ist das blöd? Ja. Tut die Polizei abseits ihrer Kontrollen etwas dagegen? Nicht so richtig.

    Zur Erinnerung: In Hamburg ist die Polizei gleichzeitig die Straßenverkehrsbehörde. Die Polizei ist somit also auch zuständig für die Beschilderung der Radverkehrsinfrastruktur und die Anordnung von Arbeitsstellen im Straßenverkehr. Man braucht nur einen kurzen Blick drüben ins „Hamburg aufräumen“-Unterforum zu werfen um festzustellen: Das klappt nur mäßig. Meistens werden Arbeitsstellen immer noch mit der bangen Hoffnung angeordnet, der Radverkehr werde sich seinen Weg schon irgendwie suchen. Der Hintergrund ist auch ganz leicht zu verstehen: Wenn man einfach keine Führung des Rad- und Fußverkehrs anordnet, bleibt mehr Platz für den Fahrbahnverkehr. Der Verzicht auf eine Führung des Radverkehrs ist also essentiell notwendig, um noch einen zusätzlichen Fahrstreifen für den Kraftverkehr realisieren zu können, um die Kapazität des Kraftverkehrs zu erhöhen.

    Der Höhepunkt dieser Denkweise war wohl im Sommer letzten Jahres, als man die Straße An der Verbindungsbahn für den Radverkehr sperrte und sich erst nach längeren Protesten für eine Umleitung entscheiden konnte; Reipe erinnert sich bestimmt. Dann darf man sich aber auch nicht wundern, wenn Radfahrer plötzlich auf der falschen Straßenseite zugange sind. Ich behaupte mal ganz frech: Man hat es ja nicht anders gewollt.

    Meine jüngsten Erfolge drüben bei „Hamburg aufräumen“ waren, dass mir die Beamten in der Straßenverkehrsbehörde aufgetragen haben, mich doch bitte selbst mit dem zuständigen Bauleiter zu unterhalten. Das ist aber nicht meine Aufgabe, nein, im Gegenteil, es ist Aufgabe der Polizei, solche Arbeitsstellen anzuordnen und die Einhaltung der Anordnung zu kontrollieren. Schlimm genug, dass wir diese Kontrolle selbst in die Hand nehmen müssen und in unserer Freizeit E-Mails an die Behörden schreiben, die offenbar noch nicht einmal bearbeitet werden, sobald die Materie etwas komplizierter wird.

    Und dann macht man eben diesen medienwirksamen Aktionstag „Ablenkung am Steuer“ und erteilt mehreren Lieferwagenfahrern die mündliche Genehmigung, zum Be- und Entladen den Radweg zu versperren und außerdem eine quasi lebenswichtige Sichtverbindung gegenüber abbiegenden Bussen zu unterbinden. Das mag eine Kleinigkeit sein, aber es ist irgendwie so unglaublich abstrus. Ich find’s auch aus der Sicht der Beamten total seltsam, wie will man denn den Passanten irgendwas von Sichtbeziehungen erklären, wenn keine fünf Meter entfernt zwei LKWs auf dem Radweg entladen werden?

    Und dann dieser Unwillen, den Ursachen auf den Grund zu gehen! Ja, die LKWs müssen irgendwo parken. Aber dann parkt doch auf der Fahrbahn! Okay, vielleicht nicht auf dem Bussonderfahrstreifen, das ist in den Auswirkungen dann doch ein bisschen heftig, aber warum nicht zehn Meter weiter hinten?

    Oder: Warum hält man die Parkplätze für den Lieferverkehr nicht frei sondern spielt angesichts der dortigen Falschparker immer wieder die bewährte „Autofahrer müssen irgendwo parken“-Karte? Klar, Geschäfte brauchen Kundschaft, Kundschaft will irgendwo parken. Und im Endeffekt landet dann der LKW direkt auf dem Radweg, damit sich der Geschäftsinhaber nicht beim Bürgermeister über die ausbleibende Kundschaft beschwert? Sorry, aber da fehlt’s mir am Verständnis, was an dieser Problematik so radikal sein soll, dass mein Gesprächspartner sich auf den üblichen Radfahrer-Whataboutism verlegte und das Social-Media-Team der Polizei Rückfragen dieser gleichen Art auf Twitter mit einem Herzchen versehen hat.

    Und drum bin ich der Meinung, dass diese tollen Fahrrad-Aktionstage nicht so recht dafür sorgen, die Sicherheit für die Verkehrsteilnehmer zu erhöhen. Klar, man braucht die Medien als Multiplikator für diese Botschaften, aber im Endeffekt kommt’s bei mir so an, als wolle man dem Bürger zeigen: Seht her, wir tun was, wir kontrollieren Radfahrer, jetzt wird alles sicher.