• Texte und Ereignisse sind stets aus ihrer Zeit heraus zu beurteilen. Erst danach ist die Wirkungsgeschichte des Textes oder des Ereignisses zu erforschen und dabei wird man in der Regel feststellen, dass es immer wieder Umdeutungen gibt und dass unterschiedliche Interessensgruppen verschiedene Deutungen ein und deselben Ereignisses oder Textes vornehmen.

    Und erst dann kann man auf das Heute schauen und versuchen festzustellen, welche Rolle das Ereignis aktuell spielt und in welche Richtungen es gedeutet wird.

    Wer diese Vorgehensweise als "Destruktivismus" diskreditiert, der versucht möglicherweise, sich um eine ausführliche Bewertung drumherum zu kommen, oder es irritiert zu sehr sein Weltbild.

    Um mal von dem Text auszugehen, den du verlinkt hast: "Im Berliner Admiralspalast vereinigen sich am 21./22. April 1946 (Ost-)SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Der Zusammenschluss soll die historische Spaltung der Arbeiterschaft beenden. Sozialdemokraten, die den Zusammenschluss ablehnen, beugen sich Druck und Täuschung der sowjetischen Militärregierung, die sie als "Feinde der Arbeiterklasse" diffamiert."

    Diese Form der Darstellung dessen was passiert ist, legt es nahe, von einer "Zwangsvereinigung" zu sprechen. Aber diese Darstellung vom Haus der Geschichte verdeutlicht eben auch, dass es Sozialdemokraten gab, die den Zusammenschluss von SPD und KPD einforderten. Und das waren ganz sicher nicht wenige, denn in dem Text wird ausgesagt, dass es Sozialdemokraten gab, die den Zusammenschluss ablehnten.

    In dem Text heißt es:

    "Sozialdemokraten, die den Zusammenschluss ablehnen..."

    Dort steht eben gerade nicht:

    Die Sozialdemokraten, die den Zusammenschluss ablehnten ..."

    Das heißt es gab auch Sozialdemokraten, die den Zusammenschluss befürworteten. Zahlen werden zwar nicht genannt, aber man kann wohl davon ausgehen, dass es viele Befürworter eines Zusammengehens von Sozialdemokraten und Kommunisten gab, und die Gründung der SED nicht ausschließlich aufgrund von Zwangsmaßnahmen zustande gekommen ist.

  • Bevor wir uns hier in Spitzfindigkeiten zur Frage der sogenannten "Zwangsvereinigung" von SPD und KPD zur SED erschöpfen. Und um noch mal direkter auf die Thüringer Ereignisse zurückzukommen:

    Nach meiner Beobachtung gibt es in der CDU und der FDP sehr unterschiedliche Bewertungen zu der Frage, wie eine "Unterstützung" Ramelows und damit eines linken Ministerpräsidenten gehen kann, ohne das Partei-Prinzip zu verletzen, mit der Partei die Linke zusammenzuarbeiten.

    Offensichtlich war beim ersten Versuch einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen, das CDU-Prinzip "keine Zusammenarbeit mit der Linken" von der Mehrheit der Bundespartei so ausgelegt worden, dass keine aktive Wahl Ramelovs stattfinden sollte. Ramelov sollte im dritten Wahlgang nicht unterstützt werden. Es sollte aber auch keine Unterstützung eines anderen Kandidaten stattfinden, wenn der andere Kandidat von der AfD unterstützt werden würde.

    Die Thüringer CDU jedoch fühlte sich dazu verpflichtet, die Chance zu ergreifen, mit Hilfe der AfD zu verhindern, dass Ramelov erneut zum Ministerpräsidenten gewählt wird, indem sie gemeinsam mit der AfD für den FDP-Kandidaten Kemmerich stimmt.

    An der Stelle bin ich zunächst davon ausgegangen, dass der Vorstoß der Thüringer CDU und der FDP von den anderen Parteimitgliedern in den anderen Bundesländern und auf Bundesebene geduldet werden würde, wenn auch zum Teil nur mit lautem Zähneknirschen.

    Und tatsächlich zählt Meuthen in seiner Youtube-Ansprache vom 13.2.2020, also rund eine Woche nach dem Thüringer Ministerpräsidenten-Wahldebakel auch eine Reihe prominenter Politiker*innen auf, die die Wahl Kemmerichs seinen Angaben zu Folge zunächst begrüßten:

    https://www.bing.com/videos/search?…23EA711B8FF5999

    In Minute 1:25 bis 1;30 nennt Meuthen:

    Wolfgang Kubicki, Zweiter FDP Bundesparteivorsitzender: "Es ist ein großartiger Erfolg für Thomas Kemmerich. Ein Kandidat der demokratischen Mitte hat gesiegt." aus. inSüdthüringen vom 5.2.2020 https://www.insuedthueringen.de/region/thuerin…rt83467,7120645

    Dorothee Bär, CSU, Bundesministerin für Digitalisierung, gratulierte ebnfalls Kemmerich: "Bär schrieb via Twitter: "Herzlichen Glückwunsch, lieber Thomas Kemmerich!"" aus: inFranken.de vom 6.2.2020 https://www.infranken.de/ueberregional/…rt89930,4844479

    Alexander Mitsch, Vorsitzender der Werteunion, (eine extrem konservative Parteigliederung innerhalb der CDU): "Einen Sieg des bürgerlichen Lagers sah auch der Vorsitzende der "Werteunion", einem Verein von CDU- und CSU-Mitgliedern. Alexander Mitsch gratulierte "Thüringen und Deutschland, die Vernunft und das bürgerliche Lager haben gesiegt"." aus: tagesschau.de vom 5.2.2020 https://www.tagesschau.de/inland/afd-fdp-thueringen-101.html
    Und was ist mit Christian Lindner, FDP-Parteivorsitzender, der von Meuthen ebenfalls zum kreis der Gratulanten gezählt wird? Seine Gratulation an die Adresse von Kemmerich fiel schon deutlich reservierter aus: "Parteichef Christian Lindner schloss eine Kooperation mit der AfD kategorisch aus. Dass die AfD offenbar den Liberalen Kemmerich mit gewählt habe, sei rein taktisch gewesen. Linder betonte, dass Landtagsfraktion und Landespartei der FDP in eigener Verantwortung handelten.

    Lindner forderte CDU, SPD und Grüne in Thüringen zur Zusammenarbeit auf. Sollten sie sich weigern, wären Neuwahlen notwendig."

    mdr vom 5.2.2020 https://www.mdr.de/nachrichten/po…enwahl-100.html

    Ich habe mir jetzt nicht die Arbeit gemacht außer den vier von Meuthen genannten "prominenten Gratulanten" des neuen Ministerpräsidenten Kemmerichs auch all die vielen oft noch sehr viel prominenteren Politiker*innen aufzuzählen, die Kemmerich nicht gratulierten und von denen viele sehr scharfe Kritik an Kemmerichs Wahl zum Ministerpräsidenten durch die AfD formulierten. Die alle aufzuzählen macht alleine schon deshalb keinen Sinn, weil Meuthen in seinem Filmbeitrag garantiert weitere insbesondere noch prominentere Politiker*innen genannt hätte, wenn es sie denn gegeben hätte.

    Leider ist die CDU anscheinend nach wie vor nicht bereit, einen Ministerpräsidenten Ramelov aktiv zu wählen. Und der wiederum befürchtet einen erneuten Verfahrenstrick der AfD: Die hat nämlich angekündigt, Ramelov im ersten Wahlgang zu wählen, so dass Ramelov im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit der Stimmen erreichen würde, eine absolute Mehrheit, die allerdings mit dem Makel behaftet wäre, dass sie mit Hilfe von AfD-Stimmen zustande gekommen ist, und die deshalb Ramelov dazu zwingen würde, die Wahl nicht anzunehmen, damit er sich nicht hinterher nachsagen lassen muss, er sei mithilfe der AfD Ministerpräsident geworden.

    Aber kann er das nicht dadurch vermeiden, dass Ramelov sowohl im ersten als auch im zweiten Wahllgang tatsächlich seine Wahl einfach nicht annimmt (mit der Begründung, es seien AfD-Stimmen darunter), so dass ein dritter Wahlgang stattfindet, bei dem dann die einfache Mehrheit reicht? Wenn dann die AfD immer noch für ihn stimmt, dann kann ihm das egal sein, weil ja die Stimmen von SPD+Grüne+Linke bereits für eine einfache Mehrheit reichen.

    Oder fürchtet Ramelov und Die Linke, dass FDP, AfD und CDU erneut sich zusammenschließen, und m dritten Wahlgang einen anderen Kandidaten wählen, um Ramelov erneut zu verhindern?

  • Ich wäre ja gerne bereit, mal zu diskutieren, welche Karriere der von Fritz Bauer in Bezug auf den deutschen Faschismus geprägte Begriff »Unrechtsstaat« hingelegt hat und inwieweit der Inhalt damit umgedeutet wurde, aber jemandem, dessen Partei bei der Wahl einige Prozente zugelegt hat und stärkste Kraft wurde, zu unterstellen, er ignoriere die Wahl der Thüringer, wenn er versucht, eine Regierung ohne Beteiligung der geistigen Brandstifter von Hanau hinzubekommen, lässt mich zweifeln, ob sich der Aufwand lohnt.

    Strohmann und ad-hominem in einem. Respekt!

    Der Regierungsauftrag hat nichts mit der große der Fraktion zu tun (sonst hätte Ramelow beim letzten Mal ja gar nicht dürfen), sondern wird dem Ministerpräsidenten durch die Mehrheit der Thüringer vertreten durch die Abgeordneten erteil. Und die Thüringer haben ihm die Mehrheit entzogen.

    Auch habe ich ihm nicht vorgeworfen, versucht zu haben, eine Regierung ohne AfD hinzubekommen. Im Gegenteil. Er hat versucht, es mit Beteiligung der AfD zu machen. Ullie hat es recht treffend ausgedrückt:

    Oder fürchtet Ramelov und Die Linke, dass FDP, AfD und CDU erneut sich zusammenschließen, und m dritten Wahlgang einen anderen Kandidaten wählen, um Ramelov erneut zu verhindern?

    Ich versuche es noch einmal möglichst verständlich auszudrücken, obwohl in meine, schon alle Punkte genannt zu haben.

    Ramelow hat versucht, sich wählen zu lassen. Damit hat er sich, wie es üblich ist, für die Konkurrenz der Parteien - die ja eigentlich sinnvoll ist - entschieden und gegen Absprachen unter allen Demokraten. Es ist vollständig legitim, dass Rot-Rot-Grün einen Kandidaten aufstellt und auch wählt. Aber es ist aber auch vollständig legitim, dass Schwarz-Gelb einen Kandidaten aufstellt und auch wählt. Eben Konkurrenz. Damit wurde der AfD als Zünglein an der Waage Macht verliehen. Auch Ramelow wäre ein Ministerpräsident von AfDs Gnaden gewesen, die sich durch Nichtwahl der Konkurrenz gezeigt hätte.

    Ich weiss nicht, was Ramelow gedacht hatte. Es wird Mohring mitunter vorgeworfen, dass er so gehandelt hat, obwohl es absehbar gewesen ist. (Nebenbei: Er hat es kommen sehen. Bernhard Vogel hat gesagt, darüber mit Mohring gesprochen zu haben. Mohring hat nach eigenen Aussagen mit Kümmerlich darüber gesprochen und ist davon ausgegangen, dass dieser dann die Wahl nicht annimmt.) Wie gesagt halte ich es bis zur Annehme der Wahl für vollkommen legitim. Warum fragt sich keiner, ob Ramelow es hat kommen sehen, was er erwartet hat? Ist er ernsthaft davon ausgegangen, dass Schwarz-Gelb von Vorne herein auf Konkurrenz verzichtet, obwohl er diese ausgerufen hat? Oder dass die AfD die Vorlage nicht annimmt?

    Ihm scheint einiges klar geworden sein. Deswegen ist er jetzt ja so darauf aus, im Vorfeld genügen Stimmen zusammen zu bekommen, um sich nicht dem Vorwurf, ein Regierungschef von AfDs Gnaden zu sein, ausgesetzt zu sehen. Eine Zusage der Enthaltung im dritten Wahlgang reicht ihm nicht.

    Ich möchte noch sagen, dass ich zuerst wie wohl die meisten anderen auch keine großen Gedanken darüber gemacht habe und davon ausgegangen bin, dass Ramelow schon irgendwie das Richtige gewesen wäre. Erst durch die Ereignisse, sind mir die Fallen ausgefallen.

  • So weit hab ich das bis jetzt auch noch nicht durchdacht Hane . Damit erscheint ja dann sogar wieder das Wahlverhalten der AFD (im 3. Wahlgang dann Kemmerich statt Kindervater zu wählen) eher getrieben durch die Umstände und weniger als gezielte Provokation. Denn mit jedem anderen Abstimmungsverhalten hätte die AFD implizit Ramelow ins Amt gewählt. Das wiederum dürfte für die AFD aber wiederrum den eigenen Wählern gegenüber nicht kommunizierbar sein.

  • Damit erscheint ja dann sogar wieder das Wahlverhalten der AFD (im 3. Wahlgang dann Kemmerich statt Kindervater zu wählen) eher getrieben durch die Umstände und weniger als gezielte Provokation. Denn mit jedem anderen Abstimmungsverhalten hätte die AFD implizit Ramelow ins Amt gewählt. Das wiederum dürfte für die AFD aber wiederrum den eigenen Wählern gegenüber nicht kommunizierbar sein.

    Ach ja? Die AfD hatte auch im 3. Wahlgang ihren eigenen Kandidaten antreten lassen.

    Diesen nicht zu wählen, aber stattdessen den FDP-Kandidaten zu wählen, das ist also dem gemeinen AfD-Wähler vermittelbar?

    Wie verträgt sich das denn mit der ständig wiedergekäuten AfD-Propaganda, dass alle anderen Parteien in Deutschland sogenannte "Systemparteien" seien?

    Siehe zum Beispiel diesen Text auf der AfD-Inernetseite über die Verhältnisse im NRW-Parlament in dem sich die AfD als "im Grunde die einzige Opposition gegen ein Kartell aus Systemparteien" sieht. https://afd.nrw/aktuelles/2017/07/planspiele/

    In diesem Text von der Internetseite der Thüringen AfD wird ausdrücklich die CDU mit zu den Systemparteien gezählt. "

    Pikanterweise unterstützte auch die CDU den Boykott. „Uns begegnet hier in jeder Sitzung eine unselige Koalition der Systemparteien, ..."https://www.afd-thueringen.de/kv-gera-jena-s…iskriminierung/

    Interessanterweise konnte ich feststellen, dass auf der AfD-Bundes-Internetseite die Suche nach dem Wort Systemparteien keine Treffer erzielt. Während auf verschiedenen AfD-Länder-Internetseiten stets mehrere Treffer erzielt werden können, wenn man mit dem Suchwort "Systemparteien" sucht.

    In ihrer Propaganda verunglimpft die AfD die CDU also als so genannte "Systempartei", den Thüringern Wählern aber mutet die AfD es zu, dass ihre Landtagsabgeordneten mit "Systemparteien" gemeinsame Sache machen?

    Hane: Übrigens hätte niemand auch die CDU und die FDP nicht Ramelow implizit ins Amt gewählt, wenn sich deren Abgeordnete beim 3. Wahlgang enthalten hätten. Die Thüringer Verfassung ermöglicht ja ganz explizit die Wahl eines Ministerpräsidenten mit einfacher Mehrheit im dritten Wahlgang! Und es war ausdrücklich von der Bundes-CDU darauf hingewiesen worden, dass eine Enthaltung im dritten Wahlgang nicht gegen das "Parteidogma" verstößt, mit dem "Erzgegner", der Partei Die Linke, zusammenzuarbeiten.

    Und jetzt kommt Hane und erklärt, dass er es besser weiß als die Bundes-CDU und die vielen anderen CDU-Gliederungen, die das Abstimmungsverhalten der Thüringer CDU kritisieren, weil eine solche Zusammenarbeit mit der AfD nicht verabredet gewesen ist. Entschuldige Hane, aber das ist doch wohl ein bisschen weit hergeholt, wie du die Sache beurteilst.

    Übrigens muss Ramelov möglicherweise tatsächlich befürchten, dass die CDU erneut im dritten Wahlgang gemeinsame Sache mit der AfD macht. Dann wird es allerdings die CDU endgültig zerreißen. Zumindest wäre dann umgehend der Rauswurf der Thüringer Parteigliederungen nötig, die einen solchen Unfug mitmachten. Überhaupt hätte AKK das besser gleich am 5.2.2020 machen sollen!

  • Der Regierungsauftrag hat nichts mit der Größe der Fraktion zu tun (sonst hätte Ramelow beim letzten Mal ja gar nicht dürfen), sondern wird dem Ministerpräsidenten durch die Mehrheit der Thüringer vertreten durch die Abgeordneten erteilt. Und die Thüringer haben ihm die Mehrheit entzogen.

    Zunächst mal ist es wichtig festzustellen, dass die Abgeordneten im Thüringer Landtag keinem imperativen Mandat folgen müssen. Die Abgeordneten im Landtag sind frei denjenigen zum Ministerpräsidenten zu wählen, den sie für den Richtigen halten. Du schreibst ja selbst, Hane, dass die Abgeordneten nicht verpflichtet sind, nur einen solchen Kandidaten zum Ministerpräsidenten zu wählen, der von der größten Fraktion als Kandidat benannt wird.

    Genau so verhält es sich mit einem von dir vermuteten Wählerauftrag. Die Thüringer haben Ramelow nicht das Vertrauen entzogen. Formal können sie das gar nicht und wenn man das als eine politische Floskel benutzt, dann trifft es erstens nicht zu, denn Ramelow genießt über die Parteigrenzen hinweg großes Ansehen bei allen Thüringern. Und es trifft auch nicht zu, weil keine der Parteien im Wahlkampf explizite Angaben darüber gemacht hat, wie sie sich bei der Wahl eines neuen Ministerpräsidenten verhalten wird, weil vor der Wahl die Mehrheiten im erst noch zu wählenden Landtag gar nicht feststehen.

    Die ganz allgemeinen Angaben, die die Kandidaten der Parteien im Wahlkampf dazu gemacht haben, wen sie zum Ministerpräsidenten wählen werden, habe ich mir angeschaut und vergeblich nach der am 5.2.2020 getroffenen Entscheidung gefahndet. Keine der Parteien hatte angekündigt, einen FDP-Kandidaten zum Ministerpräsidenten zu wählen. Die FDP selbst hatte auch niemanden als Ministerpräsidenten-Kandidaten aufgestellt.

    Deshalb frage ich mich, wie du zu der Einschätzung kommst, die Mehrheit der Thüringer hätte Ramelow bei der Landtagswahl das Vertrauen entzogen. Und deshalb sei es richtig, dass ein von Rechtspopulisten unterstützter FDP-Kandidat zum Ministerpräsident gewählt wurde. Da ist nichts dran zu rechtfertigen.

  • Übrigens hätte niemand auch die CDU und die FDP nicht Ramelow implizit ins Amt gewählt, wenn sich deren Abgeordnete beim 3. Wahlgang enthalten hätten. Die Thüringer Verfassung ermöglicht ja ganz explizit die Wahl eines Ministerpräsidenten mit einfacher Mehrheit im dritten Wahlgang!

    Wie würdest du es denn nennen, wenn sich die Situation so darstellt, dass:

    1. RRG mehr oder minder geschlossen Ramelow wählt.

    2. Diese aber keine absolute Mehrheit haben.


    Dann gibt es zwei Möglichkeiten:

    1. Die anderen Fraktionen wählen halbwegs geschlossen einen anderen Kandidaten (wie sie es mit Kemmerich getan haben). Damit wird Ramelow nicht ins Amt kommen. Ob das jetzt richtig oder falsch ist möchte ich hier nicht bewerten.

    2. Sie enthalten sich oder wählen zersplittert verschiedene Kandidaten. In diesem Fall sorgensie durch Ihr Abstimmungsverhaten dafür, dass Ramelow mit einfacher Mehrheit ins Amt gewählt wird, was ja wie du selbst erkannt hast im 3. Wahlgang geht. Dies würde ich schon als implizite Abstimmung für Ramelow bezeichnen, da man eben in einer Art und weise abstimmt, an deren Ende (vorhersehbar) die Wahl Ramelows steht. Würdest du das nicht so bezeichnen? Wenn nein, warum nicht?

  • Das kommt auf die Umstände an. Wenn die anderen Fraktionen zerstritten sind, dann ist das keine Zusammenarbeit.

    Wenn Sie sich aber gut verstehen und sie bewusst auf die Möglichkeit der Wahl eines eigenen Kandidaten verzichten, dann schon.

    Man sollte das aber meiner Meinung nach alles nicht auf die Goldwaage legen. Die Situation in Thüringen ist bekannt und bedarf einer pragmatischen Lösung.

    Wenn man das mit grundsätzlichen und dogmatisch Überlegungen überfrachtet (wie es die Union gerade tut), kommt da keine gute Lösung bei raus.

    Die Realität ist immer eine Gratwanderung zwischen Dogma und Praxis.

  • Deshalb frage ich mich, wie du zu der Einschätzung kommst, die Mehrheit der Thüringer hätte Ramelow bei der Landtagswahl das Vertrauen entzogen.

    Rot-Rot-Grün: 50,5% (2014) -> 46,7% (2019)

    Entschuldige Hane, aber das ist doch wohl ein bisschen weit hergeholt, wie du die Sache beurteilst.

    Entschuldige Ullie, aber ich versuche Strukturen zu erkennen oder festzulegen und diese dann unabhängig davon, ob mir das Ergebnis gefällt oder nicht, umzusetzen.

    Wenn man einen Kandidaten (Antrag, Haushalt oder irgendetwas anderes) gar nicht nicht erst aufstellen darf, wenn die AfD zum Mehrheitsbeschaffer werden könnte, dann gilt das für alle. Schwarz-Gelb wird jetzt ein Verstoß dagegen vorgeworfen, was als Bumerang zurück kommen kann. Gauland hat es erkannt, Ramelow wohl auch. Denn danach hätte Ramelow sich gar nicht erst zur Wahl stellen dürfen, wie auch kein Haushalt eingebracht, kein Antrage gestellt, ... werden dürfte. Das hat Ramelow bei seinem Wahlversuch nicht bedacht, nicht für einschlägig gehalten. Wenn man diese Regel jedoch nicht anwendet, dann gilt sie auch für Schwarz-Gelb nicht.

  • 2. Sie enthalten sich oder wählen zersplittert verschiedene Kandidaten. In diesem Fall sorgensie durch Ihr Abstimmungsverhaten dafür, dass Ramelow mit einfacher Mehrheit ins Amt gewählt wird, was ja wie du selbst erkannt hast im 3. Wahlgang geht. Dies würde ich schon als implizite Abstimmung für Ramelow bezeichnen, da man eben in einer Art und weise abstimmt, an deren Ende (vorhersehbar) die Wahl Ramelows steht. Würdest du das nicht so bezeichnen? Wenn nein, warum nicht?

    Die Darstellung, Ramelow würde von seinen politischen Gegnern "implizit" ins Amt gewählt werden, wenn sich Ramelows politische Gegner im dritten Wahlgang enthalten, ist politische Propaganda derjenigen, die damit den Eindruck von Zerfall und Staatskrise erwecken wollen. In dieser Situation wollen diejenigen, die diese politische Propaganda betreiben, als Retter und Erlöser wahrgenommen werden, die vom Volk legitimiert seien, die alleinige Regierungsgewalt zu übernehmen.

    Diejenigen, die diese Propaganda betreiben, müssen sich jedoch fragen lassen, warum sie nie die thüringische Landesverfassung in Frage gestellt haben, die die Wahl eines Ministerpräsidenten mit einfacher Mehrheit im 3. Wahlgang zulässt. Wenn es tatsächlich so wäre, dass die Wahl eines Ministerpräsidenten im 3. Wahlgang mit einfacher Mehrheit ein gravierendes Problem darstellen würde, warum haben diejenigen, die das behaupten nicht lange schon auf eine Verfassungsänderung gedrungen?

    Ein Beispiel für einen mit einfacher Mehrheit gewählten Ministerpräsident ist der sozialdemokratische spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez:

    "Sánchez erhielt 167 Ja-Stimmen gegenüber 165 Nein-Stimmen bei 18 Enthaltungen. Seine Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) wird künftig gemeinsam mit dem linken Bündnis Unidas Podemos (UP) die Geschicke des Landes lenken." ZDF vom 7.1.2020 https://www.zdf.de/nachrichten/he…waehlt-100.html

    Und Sánchez ist nicht nur der Ministerpräsident eines Bundeslandes mit etwas mehr als 2 Millionen Einwohner, sondern Regierungschef in einem EU-Staat mit über 46 Millionen Einwohnern.

    Eine andere, ähnliche Form von politischer Propaganda ist übrigens die häufig bemühte Behauptung eine Regierung sei nicht hinreichend legitimiert, wenn es bei der Wahl eines Parlamentes nur eine geringe Wahlbeteiligung gab. Oder wenn es bei einer Direktwahl in ein Regierungsamt nur eine geringe Wahlbeteiligung gab. So hatte mir kürzlich in Hannover jemand erklären wollen, der neu gewählte Oberbürgermeister sei nicht hinreichend legitimiert, weil er ja nur von rund einem Viertel der Wahlberechtigten gewählt wurde. Belit Onay hatte im 2. Wahlgang bei der entscheidenden Stichwahl mit 52,9 % gewonnen. Die Wahlbeteiligung lag bei 43,5 %. Auf die Frage, wie er denn dazu komme, dass diejenigen, die Onay nicht gewählt haben oder die erst gar nicht zur Wahl gegangen sind, ihn nicht als Oberbürgermeister haben wollten, kam die Antwort, das sähe man ja an den vielen Hass-E-Mails, die Onay erhalten würde. :(

  • Ja, Und? Bei der Wahl von Sanchez muss man die Enthaltungen eben auch so einordnen, dass die jeweiligen abgeordneten, die sich enthalten haben ihn damit implizit mit ins Amt gehoben haben. Ist ja auch okay (und kein großes Problem des Wahlrechts), so lange den Abgeordneten bewusst ist was sie tun (und davon gehe ich aus).

    Zitat

    Die Darstellung, Ramelow würde von seinen politischen Gegnern "implizit" ins Amt gewählt werden, wenn sich Ramelows politische Gegner im dritten Wahlgang enthalten, ist politische Propaganda derjenigen, die damit den Eindruck von Zerfall und Staatskrise erwecken wollen.

    Nochmal: Wie würdest du denn eine Enthaltung bezeichnen, die im Endeffekt dazu führt, dass Ramelow ins Amt kommt?

  • Die Darstellung, Ramelow würde von seinen politischen Gegnern "implizit" ins Amt gewählt werden, wenn sich Ramelows politische Gegner im dritten Wahlgang enthalten, ist politische Propaganda derjenigen, die damit den Eindruck von Zerfall und Staatskrise erwecken wollen.

    Propaganda? Naja ...

    Wie ich oben beschrieben habe, versuche ich die Struktur zu erkennen und die zu bewerten. Deswegen als Denkanstoß: Wie würdest Du eine Enthaltung der Union bewerten, wenn die AfD mehr Stimmen hätte als Rot-Rot-Grün?

  • Wie würdest Du eine Enthaltung der Union bewerten, wenn die AfD mehr Stimmen hätte als Rot-Rot-Grün?

    Auch naja.

    Hufeisen, was eben (jedenfalls derzeit) wirklich nicht hinhaut. Die sogenannte AfD und deren Wähler haben sich für einen menschenverachtenden, antidemokratischen und nazistischen Weg entschieden. Damit haben ihre Wähler sich auch dafür entschieden, nicht mehr in der Demokratie mitzuwirken. Das ist deren Recht, dann läuft das eben ohne sie.

    Es ist naheliegend und das erwarte ich auch von allen demokratischen Kräften, daß sie dann die Demokratie weiterführen, so gut es eben ohne die Faschisten und ihre Helfer geht.

    R2G hat mehr als Schwarzgelb, also handelt man (wenn es zu peinlich ist, dann hinter verschlossenen Türen) ein paar Zugeständnisse aus und enthält sich.

    Um mal die obige Frage zu beantworten: Das ist für jeden Demokraten eine fundamental andere Ausgangslage. Als Demokrat ist man immer Antifa. Das geht gar nicht anders. Also handelt man entsprechend.

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    Peter Viehrig

    "Glaube ist die Überzeugung, dass etwas wahr ist, weil die Belege zeigen, dass es falsch ist."
    (Andreas Müller)

  • Hätte sich die CDU bei der Ministerpräsidentenwahl im dritten Wahlgang enthalten, dann hätten die CDU-Abgeordneten damit zum Ausdruck gebracht, dass sie keinen tragfähigen alternativen Kandidaten aufstellen konnten und den von der FDP (Kemmerich) ebensowenig wählen wollten wie den Kandidaten der AfD. (Der ja im dritten Wahlgang nicht einmal von den Abgeordneten seiner eigenen Fraktion gewählt wurde.)

    Die Darstellung, damit hätten sie implizit Ramelow gewählt, ist Polemik mit dem Ziel Ramelow zu diskreditieren als einen Politiker, der aufgrund seiner Parteizugehörigkeit angeblich auch für "einen sehr hohen Preis" verhindert werden muss.

    Es ist sehr bezeichnend, wer an dieser Stelle immer wieder darauf insistiert, Ramelow sei "abgewählt worden" bei der Landtagswahl im Herbst vergangenen Jahres: "Wenn man die Wahlprogramme von CDU, AfD und FDP zusammenlege, finde man viele Gemeinsamkeiten. "Ich mache Ihnen hier nochmal das Angebot: lassen Sie uns gemeinsam einen bürgerlichen Kandidaten finden", sagte Höcke. Unter dem linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow sei Thüringen in den vergangenen fünf Jahren zu einem "Biotop für Linksextremismus" geworden, sagte der AfD-Partei- und Fraktionschef weiter. Man dürfe das Land "nicht noch einmal diesen Gesellen ausliefern". Rot-Rot-Grün sei bei der Landtagswahl am 27. Oktober vergangenen Jahres abgewählt worden." mdr Thüringen 30.1.2015 https://www.mdr.de/thueringen/thu…ow-auf-100.html

    Höckes Ausführungen sind alleine schon deshalb Unfug, weil der Ministerpräsident nicht direkt von den Wahlberechtigten gewählt wird. Vielmehr wählen die Wähler ein Parlament und die Abgeordneten dieses Parlamentes entscheiden in freier und geheimer Wahl darüber, wer Ministerpräsident wird und den Regierungsauftrag erhält. Und dafür genügt eine einfache Mehrheit im dritten Wahlgang.

    Ein "implizit gewählt" anzunehmen ist nicht zuletzt auch deshalb Unfug, weil es ja darum, geht, einen Ministerpräsidenten zu wählen, es geht eben gerade nicht darum, die Wahl eines Ministerpräsidenten zu verhindern, ohne konkret einen geeigneten und mehrheitsfähigen eigenen Kandidaten benennen zu können.

    Kemmerich erhielt zwar eine Mehrheit, aber geeignet war er ganz sicher nicht. Nicht so sehr deshalb, weil er sich im Wahlkampf ironisch als "Glatze" bezeichnet hat und weil er Cowboy-Stiefel trägt (da gab es einen anderen, der trug bei seiner Vereidigung zum hessischen Umweltminister Turnschuhe und der wurde später deutscher Außemminister Minute 1:40 von 2:36 in diesem Tagesschau-Beitrag von 1985

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    ), sondern vor allem deshalb, weil Kemmerich mit den Stimmen der AfD-Abgeordneten gewählt wurde und sich jeder die Frage stellen muss, was er dafür für Zusagen gegenüber der AfD abgegeben hat.

    Der verlinkte Tagesschaubeitrag von 1985 ist auch deshalb interessant in dieser aktuellen Diskussion, weil er zeigt wie die Grünen 1985 von der CDU (und der FDP) dämonisiert wurden!

    Natürlich kann jeder, der das will, davon reden, die CDU hätte Ramelow im dritten Wahlgang implizit gewählt, wenn sie sich enthalten hätte. Schließlich gibt es Redefreiheit. Wer so daherredet, der muss sich aber mit dem Vorwurf auseinander setzen, dass er sich damit gefährlich dicht an die AfD-Propaganda annähert, und an die Propaganda von dem Teil der CDU, der eine aktive Zusammenarbeit mit der AfD befürwortet, um der Partei Die Linke (und der SPD und den Grünen) zu schaden, weil diese Parteien von diesem Teil der CDU offenbar für noch gefährlicher gehalten werden als die AfD.

    Hätte sich die CDU im dritten Wahlgang enthalten, dann hätte sie Ramelow nicht gewählt. Punkt! Eine Option mit "Nein" zu stimmen gibt es übrigens nicht bei der Wahl zum Ministerpräsidenten in Thüringen.

  • Propaganda? Naja ...

    Wie ich oben beschrieben habe, versuche ich die Struktur zu erkennen und die zu bewerten. Deswegen als Denkanstoß: Wie würdest Du eine Enthaltung der Union bewerten, wenn die AfD mehr Stimmen hätte als Rot-Rot-Grün?

    Wenn in Thüringen die AfD bei der letzten Wahl mehr Abgeordnetensitze errungen hätte und zwar so viele, dass sie mehr Abgeordneten hätte als Rot-Rot-Grün (aber keine absolute Mehrheit), dann hätte die AFD vermutlich versucht, im dritten Wahlgang einen Ministerpräsidentenkandidaten aus ihren Reihen aufzustellen. Das hat sie am 5. Februar 2020 ja auch so gemacht, obwohl die AfD alleine nicht mehr Stimmen hatte als Rot-Rot-Grün, wie du es in deinem Beispiel annimmst.

    Ein AfD-Ministerpräsident hätte dann nur dadurch verhindert werden können, wenn eine Mehrheit der Abgeordneten im Parlament einen Gegenkandidaten gemeinsam gewählt hätte. Dabei hätte eine einfache Mehrheit genügt.

    Hätte sich die Union in dieser von dir angenommenen Situation nicht daran beteiligt, gemeinsam mit den anderen Parteien einen anderen als den AfD-Kandidaten zu wählen, dann hätten die Menschen in Thüringen einen AfD-Ministerpräsidenten bekommen, weil die CDU nicht bereit war, durch ein gemeinsames Vorgehen mit den anderen Parteien im Parlament, das zu verhindern.

  • Ein "implizit gewählt" anzunehmen ist nicht zuletzt auch deshalb Unfug, weil es ja darum, geht, einen Ministerpräsidenten zu wählen, es geht eben gerade nicht darum, die Wahl eines Ministerpräsidenten zu verhindern, ohne konkret einen geeigneten und mehrheitsfähigen eigenen Kandidaten benennen zu können.

    Zitat

    Hätte sich die Union in dieser von dir angenommenen Situation nicht daran beteiligt, gemeinsam mit den anderen Parteien einen anderen als den AfD-Kandidaten zu wählen, dann hätten die Menschen in Thüringen einen AfD-Ministerpräsidenten bekommen, weil die CDU nicht bereit war, durch ein gemeinsames Vorgehen mit den anderen Parteien im Parlament, das zu verhindern.


    Der Wiederspruch fällt dir jetzt aber schon selbst auf, oder?








  • Prinzipiell ist es doch genau das gleiche: bewertet man eine Enthaltung als eine Art Zusammenarbeit oder nicht?

    Die Antwort müsste in beiden Fällen die gleiche sein. Nur mit wem zusammen gearbeitet wird, unterscheidet sich.

    Das ist erstmal nur die Begriffsklärung. Die politische Bewertung ist eine andere Sache.

  • Die Antwort müsste in beiden Fällen die gleiche sein. Nur mit wem zusammen gearbeitet wird, unterscheidet sich.

    Das ist erstmal nur die Begriffsklärung. Die politische Bewertung ist eine andere Sache.

    Das mag theorethisch so stimmen. Nur ist die Lage in Thüringen eine solche, daß dort die Bewertung auf die Begriffsklärung (zurück) durchschlägt - für einen Demokraten durchschlagen muß -, weil es für diesen einen demokratischen Imperativ gibt. Und insoweit unvermeidlich unterschiedliche Ergebnisse herauskommen.

    Ich würde an R2G übrigens die selbe Erwartungshaltung anlegen, wenn Schwarzgelb mehr Stimmen als R2G hätte. Ist nun aber halt anders.

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    Peter Viehrig

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