Die Argumentation läuft zusammengefasst auf folgendes hinaus. Die einschlägigen Regelwerke enthalten sind in Bezug auf die Sicherheitsabstände teilweise fehlerhaft, da sie hinter den Erkenntnissen der Unfallforschung zurückbleiben. Insofern bilden sie nicht den Stand der Technik und der Wissenschaft ab. Bilden sie aber die anerkannten Regeln der Technik ab?
ZitatGeeignetheit in der Praxis bedeutet außerdem nicht notwendig, dass von sicherheitstechnischer Unbedenklichkeit auszugehen ist, weil von der Praxis gewisse Gefahrenlagen nicht oder nur sehr schwer erkannt werden können, zum Beispiel die Toxizität einer Bauweise oder ihre mangelhafte Haltbarkeit bei besonders starker Beanspruchung. Daher kommt der Wissenschaft eine Kontrollfunktion zu. Dies bedeutet, dass technische Normen nicht zum technischen Standard zu rechnen sind, wenn wissenschaftlich begründete Einwendungen gegen ihre Verwendung bestehen.
[Quelle: Schulze Hagen, Alfons 2004 : Die Bindungswirkung technischer Normen und der Anscheinsbeweis im Baurechtsprozess]
Insofern ist offensichtlich, dass sich aus den Erkenntnissen der Wisssenschaft begründete Einwendungen gegen die in den Regelwerken enthaltenen Sicherheitsabstände finden lassen.
Die Frage, ob die Herausgeber von Regelwerken für technische Fehler haften, die in der Anwedung zu Unfällen führen ist in der Rechtsprechung umstritten. Nicht umstritten ist allerdings, dass sich der Regelanwender nicht hinter den technischen Regelwerken verstecken kann:
Zitat
Die Rechtsprechung und die Literatur sehen ein haftungsbegründendes Verschulden schon darin, dass der Verkehrssicherungspflichtige es schuldhaft unterlässt, sich mit den neuesten Erkenntnissen der Baumpflege vertraut zu machen. […] Anwender, die diesen Umstand nicht zur Kenntnis nehmen wollen oder können und die unterdimensionierten Kronensicherungen nicht unverzüglich überprüfen und richtig dimensionieren, setzen sich dem haftungsbegründenden Schuldvorwurf aus, sich nicht mit den neuesten gesicherten Erkenntnissen der Baumpflege vertraut gemacht zu haben. Dabei sind die Anforderungen für die Reaktionszeit und -art an eine Kommune höher als an einen Privaten. [...] Für Personen- und Sachschäden durch Baumbruch haftet in erster Linie der Verkehrssicherungspflichtige, und zwar unabhängig davon, ob er das inhaltlich falsche Regelwerk selbst angewendet, seine Anwendung einer beauftragten Fachfirma vorgeschrieben oder diese von sich aus danach gehandelt hat.
[Quelle: Hötzel, Hans-Joachim: Wer haftet bei Fehlern in einem Regelwerk? In: DEGA 35/2006: 10-13; Hervorh. d. Verf. ]
Ebenso Iris Martin:
Zitat
Die Anwendung setzt immer eine eigenständige Prüfung des kenntnisreichen und kritischen Anwenders voraus.
[Quelle: Martin, Iris 2008: Technische Regelwerke und anerkannte Regeln der Technik. Wer haftet bei der Anwendung oder der Herausgabe? In: NL 06/2008:59]
Die Prüfung muß sich nun der Frage widmen, ob plötzlich geöffnete Fahrzeugtüren ein Hindernis sind, auf dass sich die Verkehrsteilnehmer selbst einzustellen haben, ob es also zu den offensichtlichen Gefahren gehört, die kein Tätigwerden des VSP erfordern.
ZitatJedoch begründet nicht etwa generell nur die überraschend auftretende Gefahrenquelle eine Verkehrssicherungspflicht (vgl. BGH, VersR 1980, VERSR Jahr 1980 Seite 1159; Steffen, § 823 Rdnr. 144 m.w. Nachw.). So können Vorsorgemaßnahmen des Sicherungspflichtigen auch bei nicht verborgenen Gefahren etwa dann geboten sein, wenn diese aufgrund ihrer objektiven Beschaffenheit (z.B. ungewöhnlich tiefes Loch) im Verletzungsfall besonders einschneidende Schäden erwarten lassen. Dann muß der Sicherungspflichtige insbesondere bei Gefährdung von Leben, Körper und Gesundheit auch für den Fall erhöhter Unaufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer Schutzvorkehrungen treffen. [Quelle: OLG Hamm, Urteil vom 19.07.1996 - 9 U 108/96]
Die Frage nach der Offensichtlichkeit einer Gefahrnequelle oder der Forderung, dass sich die Verkehrsteilnhemer selbst darauf einstellen müssen tritt demnach immer mehr zurück: 1. je höher das gefärdete Rechtsgut ist 2. je gravierender die Einwirkungen auf dieses Rechtsgut sind. Die Rechtsprechung forder von den Verkehrsteilnehmern einen ausreichenden Abstand ein. Hieraus ergibt sich, dass die Rechtsprechung offenbar den Standpunkt vertritt, die Gefahr plötzlich geöffneter Fahrzeugtüren sei dem durchschnittlichen Radfahrer sowohl von der Intensität der Gefahr (schweren Verletzungen oder Tod) als auch von der statistischen Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts (dominante Unfallursache bei Fahrbahnführung) her bekannt. Um so widersprüchlicher ist daher der Umstand, dass Schutzstreifen derart schmal markeirt werden dürfen, dass ein ausreichender Sicherheitsabstand nur einhaltbar ist, wenn der Radfahrer teilweise oder ganz über die Begrenzungslinie herausragt. Ein derartiger Schutzstreifen suggeriert dem durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer, der sich dieser Gefahren nicht bewusst ist, eine falsche Sicherheitserwartung anstatt ihn vor den wissenschaftlich eindeutig belegten tatsächlichen Gefahren zu schützen.
In einem Vortrag mit dem Titel "Eingreifen der Staatsanwaltschaft bei Straftaten im Zusammenhang mit Unfallschwerpunkten"
gehalten von Oberstaatsanwalt Heering der Staatsanwaltschaft Mosbach im Rahmen einer Seminarreihe zur Schulung der Unfallkommissionen im Land, veranstaltet vom Ministerium für Verkehr und Infrastruktur des Landes Baden Württemberg in 2009, warnte Heering die kommunalen Entscheidungsträger:
ZitatMangelnde Feststellung von Unfallschwerpunkten oder unterbliebene Konsequenzen aus Unfalluntersuchungen können natürlich – auf Ebene aller beteiligter Behörden und behördenintern auf Ebene aller Verantwortlichen bis hin zur etwa politischen Verwaltungsspitze! – bei der Feststellung der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung oder der Vorhersehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung im Rahmen der Fahrlässigkeitsprüfung Bedeutung gewinnen. […] Zur Beruhigung der Verwaltungsbehörden: praktische Fälle sind bislang selten. Zu Ihrer Beunruhigung: Sie müssen’s aber nicht bleiben!.
Insofern sehe ich hier drei Wege, gegen derartige Schutzstreifen vorzugehen.
1. Verwaltungsrechtlich
2. Strafrechtlich (Baugefährdung bei vorliegender konkreten Gefährdung von Radfahrern, Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr i.V.m fahrlässiger Körperverletzung resp. fahrlässiger Tötung bei Unfällen)
3. Zivilrechtlich (Amtshaftung bei Unfällen)