M.E. ist die STVO als "Gesamtkunstwerk" dafür ursächlich, dass auch in den allerkleinsten Ortschaften KfZs Vorrang haben.
Die gleiche StVO, die gleich zu Beginn ständige Rücksicht und Vorsicht von allen Teilnehmern fordert? Die bis auf wenige Ausnahmen (die nahezu nirgends verwendet werden) keine Mindest-, aber fast überall eine Höchstgeschwindigkeit kennt? Die bei unklaren Verkehrsverhältnissen ein Anhalten, Aussteigen und Verständigen über das weitere Vorgehen fordert?
Ja, sie ist aus der Reichsstraßenverordnung entstanden. Ja, gewisse Dinge wie Tempolimits wurden erst später aufgrund hoher Unfall- und Todeszahlen hinzugefügt. Ja, an einigen Stellen (z. B. bzgl. Fußgängern) sind die Regeln unvollständig oder benachteiligend). Aber grundsätzlich ist die aktuelle Fassung doch wirklich brauchbar.
Auch hier herrscht - wie auch in anderen Bereichen des Rechts - lediglich ein Vollzugsdefizit. Es sind zu wenig Polizisten unterwegs, um die Vorschriften zu kontrollieren und Fehlverhalten zu sanktionieren. Es werden zu wenig Beamte dafür gemaßregelt, wenn sie willentlich Vorgaben missachten, z. B. bei der Ausweisung von Radwegen oder Nichtausweisung von T30-Zonen. Es besteht ein Aufklärungsdefizit in der Bevölkerung über richtiges Verhalten im Straßenverkehr, z. B. korrektes Überholen, richtiger Seitenabstand, angepasste Geschwindigkeit.
All das ist aber nicht der StVO anzulasten. Wenn ein wahnsinniger Landrat glaubt, er könne sich über die Regeln hinwegsetzen, dann muss er eins auf den Deckel kriegen und nicht die StVO geändert werden - über die geänderte Fassung würde er sich ja auch weiterhin hinwegsetzen. Wenn ein SUV-Fahrer meint, dass 60 nachts auf Landstraßen im Winter zu langsam wäre und gefährlich nahe auffährt, dann muss er von der Polizei den Bußgeldbescheid bekommen, die StVO hat sein Verhalten jedenfalls in keiner Weise gebilligt, im Gegenteil mehrfach verboten. Wenn ein irrer Raser am Zebrastreifen ein Kind totfährt, dann war das immer schon verboten und hat ihn nicht davon abgehalten - aber eine großzügig verhängte MPU, ein Auto mit nicht deaktivierbarem Notbremsassistenten und unkomfortabel angelegte Straßen hätten es getan und wären voll von der StVO in der aktuellen Fassung gedeckt gewesen. Selbst Aktionsformen wie die Critical Mass sind von der StVO gedeckt, was ich ehrlich gesagt Deutschland bisher kaum zugetraut hätte.
Eigentlich ist die StVO aktuell sogar eine kleine Geheimwaffe für Bürger, die die Verkehrswende fordern. Ein paar Beispiele:
- Radwege sind angeordnet, obwohl kein Grund besteht: § 45 entfernt sie vor Gericht in den meisten Fällen
- Ortsdurchfahrt (übergeordnete Straße) wird zu schnell durchfahren: abwechselnd legal geparkte KFZ und Anhänger nach § 12 verlangsamen den Verkehr so arg, dass keine Gefahr mehr besteht
- Raser gefährden sich und andere: Verkehrsunterricht nach § 48, wenn das nicht hilft MPU oder Entzug der Fahrerlaubnis nach StVG
- Verkehrsfluss zu schnell? Ohne Grund sind nach § 2 etwa 50% der Maximalgeschwindigkeit noch erlaubt, mit Grund darf man beliebig langsam fahren; selbst bei Verstoß ist das Bußgeld lächerlich gering
- T30, Fahrradstraßen, VBB: auf Gemeindestraßen problemlos einrichtbar, sofern sie nicht vollkommen verwaist sind (Kinder, Alte, Kranke, Einkaufsbereiche, allgemein belebte Bereiche)
- Radfahrstreifen/Schutzstreifen: in vielen Fällen überhaupt nicht legal benutzbar (Seitenabstand abgeleitet aus § 5), daher ignorierbar auch ohne Klage
- Rechtsfahrgebot: durch den Mindestüberholabstand aus § 5 ist es egal, ob man mit dem Rad ganz rechts oder mittig auf dem Fahrstreifen fährt, Nebeneinanderfahren ist in den meisten Fällen völlig in Ordnung
- Protected Bikelanes können auf mehrspurigen Straßen, auf denen es vorher Radwege gab, problemlos nach § 45 angelegt werden; und auf denen ohne Radwege kann der Umweg über freigegebene Busspuren genommen werden