"Früher war alles besser\schlimmer/" ist kein valides Argument, sonst könnte man auch bei 60 cm breiten Radwegen mit Ampelmasten drauf und ohne Sicht hinter Parkern versteckt sagen: "Hat sich doch seit Jahrzehnten bewährt!1! Soll'nse doch mit 7 km/h langradeln oder einfach absteigen, wenn ihnen das nicht passt!!1!"
Nun ja, manche hier im Forum meinen ja, gar keine Radwege seien besser, weil die wurden ja von den Nazis erfunden, und dienen nur dazu, den freien Radverkehr zu domestizieren.
Ich habe weder behauptet, früher sei alles besser gewesen, noch das Gegenteil, nämlich, dass früher alles schlimmer gewesen sei. Fakt ist, die Entwicklung der Mobilität hat eine Eigendynamik bekommen, die dazu führt, dass objektiv erkennbare Grenzen immer weiter verschoben werden zum unmittelbaren Leidwesen vieler Menschen und auf Kosten von Natur, Klima und Umwelt.
Ich hatte bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, aber hier gehört es natürlich auch hin: Auf deutschen Landstraßen gilt ein generelles Tempolimit von 100 km/h. Das hat nicht nur zu Folge, dass auf zahlreichen Landstraßen, die sicherheitstechnisch dafür gar nicht geeignet sind, mit Tempo 100 gerast wird, obwohl § 3 der StVo sagt: "Wer ein Fahrzeug führt, darf nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Die Geschwindigkeit ist insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen." https://www.gesetze-im-internet.de/stvo_2013/__3.html
Die langfristigen Folgen sind noch viel gravierender als einzelne Verkehrstote, die dann unschuldigen Straßenbäumen angelastet werden: Wird eine Landstraße oder ein einzelner Abschnitt einer Landstraße erneuert, dann treten Regelungen in Kraft, die dazu führen, dass die Fahrbahnen verbreitert werden, dass sie begradigt werden, dass niveaugleiche Kreuzungen vermieden werden und stattdessen sogenannte "höhenfreie Kreuzungen" gebaut werden. Das hat man übrigens beim Westschnellwegbau schon in den 50er-Jahren so getan.
Der Radverkehr wird dann ausgegrenzt von vielen Straßen, die neu gebaut werden, entweder mit dem Hinweis, es gäbe ja für den Fahrradverkehr geeignete Feldwege oder indem separate Fahrradwege angelegt werden. Auffallend bei den Schnellweg-Diskussionen in Hannover: Es irritiert die meisten Menschen, die du darauf ansprichst komplett, wenn du forderst, dass die Schnellwege so erneuert werden sollen, dass es attraktiv ist, mit dem Fahrrad darauf zu fahren. Die Schnellwege werden als "Lebensraum" der Autos empfunden, in den Nichtautofahrende nicht eindringen dürfen und viele Menschen haben das so akzeptiert.
Dagegen findet andere Argumente mehr Gehör: Die Bauphase und die damit einhergehende kurzfristige (die BI Westprotest nennt 10 bis 15 Jahre Bauzeit) und langfristige Vernichtung von Natur und Erholungsraum. Und die damit einhergehenden Einschränkungen für den Autoverkehr. Viele Autobesitzenden sagen sich, die Straße hätte es doch noch ein paar Jahrzehnte getan. Andere befürchten, vom Umleitungsverkehr betroffen zu sein. Aber genau diese Argumente lassen sich natürlich am einfachsten aushebeln, denn es wird ja angeblich alles besser durch den Schnellwegausbau. Standstreifen erhöhen die Sicherheit und Flüssigkeit des Verkehrs. Breite Mittelstreifen mit stabilen Leitplanken verhindern, dass Fahrzeuge auf die Gegenfahrbahn "geraten" und so weiter. Und diejenigen, die Bedenken anmelden, werden als "notorische Fortschrittsverweigerer" gebrandmarkt.
Oder noch schlimmer: Es wird den Ausbaugegnern unterstellt, sie verhinderten es, den Autoverkehr sicherer zu machen. Übrigens auch ein gängiges Argument, um das Abholzen von Alleebäumen zu rechtfertigen. Oder auch um Verkehrsteilnehmer*innen in Misskredit zu bringen, die es wagen, darauf hinzuweisen, dass Fahrradwege nicht unbedingt immer mehr Sicherheit bringen und stattdessen in Erwägung gezogen werden muss, den Fahrradverkehr stärker auf der Fahrbahn zu etablieren. So eine Art von Fortschritt wird dann als Rückschritt bezeichnet.