Ich finde nicht, dass man leichtfertig auf Grundrechte verzichten sollte. Unsere Grundrechte sind das, was unseren Staat ausmacht (und von manch anderen unterscheidet).
Ohne Grundrechte könnte ich dies hier nicht schreiben, und Du es nicht lesen. Vielleicht besäßest Du auch gar kein Gerät, um es zu lesen - Grundrecht auf Eigentum. Auch die "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" werden mir Artikel 1 des Grundgesetztes zu Grundrechten erklärt.
Da stimme ich dir grundsätzlich zu.
Aber:
Es ist ein Grundrecht, auch nachts das Haus verlassen zu können. Jetzt gibt es Leute, die sagen: Es nütze doch nichts, dieses Grundrecht zu beschneiden, weil es doch nicht dazu führt, dass jemand davon Corona bekommt, dass ich oder mein*e Partner*in nachts einen Spaziergang machen, bei dem wir niemanden zu nahe kommen.
Und dann gibt es Leute, die klatschen dazu Beifall und finden mal wieder alle Politiker*innen seien doof. (Um das mal milde zu formulieren.)
Darum geht es jedoch nicht bei der nächtlichen Ausgangssperre und wer sich die Mühe macht, ein bisschen genauer hinzuhören, der kann das auch schnell erfassen. So sagte die Bundeskanzlerin in der heutigen Debatte zum Thema Ausgangssperre: "Die Einwände dagegen nehme sie ernst. Die Vorteile dieser Maßnahme seien aber größer als die Nachteile. Es gehe aber darum, "abendliche Bewegungen von einem Ort zum anderen zu reduzieren"."
tagesschau.de vom 16.4.2021 https://www.tagesschau.de/inland/innenpo…corona-103.html
Die Kritik an der nächtlichen Ausgangssperre, wie ich sie oben genannt habe und wie sie derzeit von vielen vorgetragen wird, trifft nicht den Kern. Die Ausgangssperre ist für gewöhnlich eine militärische Maßnahme oder eine polizeiliche Maßnahme, mit der politische Gegner daran gehindert werden, sich zu organisieren und politisch aktiv zu sein. Oder eine Besatzungsarmee schützt sich mit einer Ausgangssperre vor einer feindlich gesinnten Bevölkerung. Mir fallen fünf historische Beispiele für Ausgangssperren ein:
1. In den beiden Weltkriegen
2. Aufstände in der Weimarer Republik
3. unmittelbare Nachkriegszeit in den Besatzungszonen
4. Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR (das war immerhin in Westdeutschland ein Gedenk-Feiertag bis 1990)
5. Studenten-Aufstände gegen den Algerienkrieg und die de Gaulle-Regierung in Frankreich 1961
Es ist eine fürchterliche Geschichtsklitterung, die zum Beispiel die AfD mit ihrem Protest gegen die Ausgangssperre betreibt.
Die AfD ist eine Partei mit einem Hang zum Autoritarismus. Das zeigen nicht zuletzt die zahlreichen Sympathiekundgebungen für Urban und Putin aus den Reihen der AfD. Und eine AfD-Regierung wäre ganz schnell mit einer Ausgangssperre zur Hand, wenn es darum ginge politische Gegner zu unterdrücken. Die AfD tut aber so, als lehne sie aus demokratischer Grundüberzeugung die nächtliche Ausgangssperre im Infektionsschutzgesetz ab. In einem Gesprächen mit einem AfD-Sympathisanten ging der so weit, die Bundeskanzlerin mit Walter Ulbricht zu vergleichen, der am 17. Juni 1953 mit einer Ausgangssperre den Aufstand gegen die DDR-Regierung unterdrückte.
Die Ausgangssperre ist nicht eine Maßnahme, die nächtliche Alleinspaziergänge verhindern soll. Sondern es sollen direkte Kontakte reduziert werden. Dass dadurch zweckfreie nächtliche Alleinspaziergänge nicht mehr möglich sind, ist leider nicht vermeidbar. In Hannover war es übrigens möglich zum Beispiel zur Nachtdienst-Apotheke zu gehen, um dort zum Beispiel Kopfwehtabletten zu holen. Das hätte ich auch sofort gemacht, wenn ich das Bedürfnis verspürt hätte, nachts raus zu gehen.
Eine ernstzunehmende Kritik an der im Bundesinfektionsschutz vorgesehenen Ausgangssperre kann nach meiner Meinung nur darin bestehen, dass eine Ausgangssperre immer auch die Gefahr beinhaltet, dass sie zu einem Mittel in der politischen Auseinandersetzung wird. Nicht zuletzt die Tatsache, dass auch in Bayern nächtliche Demonstrationen während der Zeit der verhängten Ausgangssperren zugelassen wurden, ist für mich ein Zeichen der Entwarnung.
Ich sehe die genannte Gefahr nicht und ich empfinde dieses "Argument", da kann ich ja nachts nicht einmal alleine vor die Tür gehen, obwohl ich doch dabei bestimmt niemanden anstecke, als komplett lächerlich, in Anbetracht der weiter oben genannten Beispiele für Ausgangssperren.
Hier ein Beispiel für ein Plakat das auf die nächtliche Ausgangssperre in dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Paris hinweist: Es ist aus einer Filmkulisse.
https://pbs.twimg.com/media/EWMhprpUEAA0GwG.jpg
Und hier ein Beispiel für ein Plakat, das ein französischer Künstler angefertigt hat, um für die Ausgangssperre zur Pandemie-Eindämmung in Frankreich Werbung zu machen: Das Plakat wurde bewusst im Stil eines historischen Plakats gestaltet.
https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/5143ff6…50_fpy35.38.jpg
Kein milderes Mittel?
Da gäbe es einige Maßnahmen, die Infektionen reduzieren können, die aber noch nicht ergriffen wurden:
- Homeoffice-Pflicht, woe möglich
- tägliche Testpflicht in Betrieben, wo Homeoffice nicht möglich ist
Ich finde übrigens auch, dass eine home-office Pflicht oder eine Testpflicht für Arbeitgeber kommen sollte. Aber ich fände es auch lächerlich zu sagen, wenn das nicht kommt, dann darf es auch keine nächtliche Ausgangssperre geben. Da freut sich das Virus dann zweimal.