Gestern in Lüneburg, letzte Woche in Hamburg: Fridays for Future geht für die Verkehrswende auf die Straße.


Genaugenommen ist es nur noch der klägliche Rest, der von Fridays for Future übrig ist. Ich denke, die Forderungen hinsichtlich einer Verbesserung öffentlicher Verkehrsmittel sind hier hinreichend bekannt, die muss ich nicht noch mal wiederholen.
Was ich aber gerne einmal loswerden möchte, ist mein Entsetzen über dieses ständige Gepöbel der Passanten. Es gehört natürlich zum Prozess der Meinungsbildung einer Demonstration dazu, dass man sich als Demonstrant auch mal mit den Argumenten von Passanten am Straßenrand auseinandersetzen muss. Und gerade beim Thema der Neubaustrecke oder der Ertüchtigung der Bestandsstrecke von Hamburg nach Hannover gibt es gute Gründe, sich auch die Gegenargumente anzuhören, auch wenn in dieser Hinsicht wohl schon alles gesagt wurde, wenngleich noch nicht von jedem.
Aber darum geht es den Leuten ja gar nicht.
Bei der Hamburger Demonstration waren die Leute am Straßenrand grundsätzlich nur noch am Kotzen. Und das ist insofern einen Beitrag wert, als dass wir ja für die Verkehrswende auf die Straße gegangen sind. Und in Hamburg, einer Stadt, in der ein nicht unerheblicher Teil der Menschen öffentliche Verkehrsmittel nutzt, sollte das ja eigentlich ein satisfaktionsfähiges Thema sein. Stattdessen kamen die üblichen Sprüche, wir mögen uns bitte verpissen, wir sollten erstmal in die Lehre gehen und vor allem die Smartphones wegschmeißen.
Und: Erstmal im Leben was leisten.
Das ist ja ohnehin mein Lieblingsthema. Irgendwann im Frühjahr ploppte plötzlich dieses Thema mit der individuellen Lebensleistung auf. Ich saß mit meinem Notebook als Zuschauer hinten im Lüneburger Verkehrsausschuss und wartete auf die Tagesordnungspunkte, die mich interessierten, als zwei ältere Zuschauer den Saal verließen und mich beim Hinausgehen recht laut ansprachen, was ich denn hier eigentlich verloren hätte, ob ich nicht erstmal Arbeiten gehen könne, Steuern zahlen, im Leben was leisten, bevor ich mich in den Verkehrsausschuss setze. Sprachen’s und gingen davon.
Und ungefähr seit diesem Ereignis fällt mir auf, wie oft mir das draußen am Wahlkampfstand, auf der Straße, in der 1. Klasse der Bahn und auch im Internet immer wieder vorgehalten wird: Die jungen Leute, die im Leben noch nichts geleistet haben. Die uns nur parasitär auf der Tasche liegen wie die Made im Speck. Die gar nicht arbeiten wollen.
Und das höre ich mir an mit meinen bald 35 Jahren, der ich seit meinem 16. Lebensjahr Geld verdiene, damals bei der Lokalzeitung und als Fahrgastzähler in der Bahn freilich nicht so viel, aber immerhin schon mit Lohnsteuerkarte. Und nun gehe ich Vollzeit arbeiten, 40 Stunden pro Woche plus Überstunden, gehe einer selbstständigen Nebentätigkeit nach, zahle Steuern ohne Ende, engagiere mich ehrenamtlich und habe bis auf ein paar Stunden pro Monat auf dem Fahrrad eigentlich gar keine Freizeit im eigentlichen Sinne und höre mir dann an, ich hätte im Leben noch nichts geleistet.
Klar, ich habe kein Haus gebaut, ich habe mit meiner Hände Arbeit nichts geleistet, weil ich handwerklich ein Totalausfall bin, ich habe auch dieses Land nicht nach dem Krieg wieder aufgebaut, aber ich sorge immerhin mit meiner Arbeitskraft dafür, dass der Laden am Laufen bleibt. Zweifelsohne gibt es hunderttausende Menschen, die mehr geleistet haben, aber ich sehe mich da tatsächlich nicht am Ende der Schlange.
Und mir platzt mittlerweile auch zuverlässig der Kragen. Gestern waren Lischen-Radieschen und ich kurz noch am einzigen sonnigen Abend dieses Monats in der Lüneburger Heide unterwegs, als wir für ein Foto anhielten und hinter uns auf einer Sitzbank vier ältere Menschen hockten und sich über diese jungen Leute beschwerten, die gar nicht mehr arbeiten wollten, die nur noch dem Steuerzahler auf der Tasche lägen. Ich kann’s echt nicht mehr ab.
Zurück zur Hamburger Demonstration: Dort patzten mich auch zwei Damen im besten Alter an, wir sollten doch mal arbeiten gehen, also fragte ich frech zurück, wie viele Jahre die beiden denn schon eingezahlt hätten. Och, nur 25 Jahre? Das sind ja grad mal fünf Jahre länger als ich. Und dann stellte sich heraus, dass die beiden mit ihren insgesamt vier Kindern aus Lübeck mit der Bahn hergefahren sind, also ich ja quasi für deren Interessen auf der Straße war.
Das Argument fruchtete natürlich nicht, man erging sich wieder in den üblichen Weisheiten über die „nutzlose Jugend“, die außer „Händies“ nichts im Kopf hätte, die nur an sich selbst denke und der arbeitenden Generation auf der Tasche liege.
Und nebenan sitzen dann deren vier Söhne, allesamt in ihr Smartphone vertieft, und schlagen irgendwie die Zeit tot, während ihre Mütter darüber reden, dass die Jugend nichts mehr tauge. Find ich ja interessant.
Und gestern in Lüneburg ging’s noch heißer her: Ich lief mit der Kamera für ein paar Fotos vornweg und bekam während des gesamten Demonstrationszuges einen schier unendlichen Schwall an Weisheiten und Vorurteilen ab, immerzu das gleiche, erstmal Arbeiten gehen, erstmal Steuern zahlen, Smartphone entsorgen, immer die neusten Markenklamotten, noch nichts im Leben geleistet, geht doch nach China, ihr Spinner, ihr Specken, ihr Hurensöhne.
Auf dem Lüneburger Marktplatz musste die Polizei gleich drei Mal intervenieren, als aggressive Passanten sich nicht mehr anders zu helfen wussten, als ihrer Abneigung mit tätlichen Übergriffen Ausdruck zu verleihen.
Und es ist einfach komplett irre: Wir liefen durch die Innenstadt und die Leute waren fast ausnahmslos am Meckern. Und das macht auch was mit einem: Ich gehe dort schließlich hin und wieder einkaufen. Aber nun stehen dort der Bäcker, der Schuhmacher und der Spielwarenverkäufer vor ihren Läden und zeigen mir den Vogel, rufen mir Beleidigungen zu, obwohl ich als Fotograf noch nicht einmal dem eigentlichen Demonstrationszug zugehörig bin. Aber bei denen gehe ich ja morgen nicht mehr einkaufen, die hätten mir ja am liebsten Hausverbot erteilt, wären sie in dem Moment nicht mit Beleidigungen beschäftigt gewesen.
Beim Bäcker habe ich hin und wieder auf dem Weg zum Bahnhof angehalten, wenn ich zu Fuß unterwegs war, er kannte meine Bestellung, ich musste gar nichts mehr sagen. Ich fühlte mich wie ein geschätzter Kunde. Und gestern nannte er mich einen Vollspasten, der sich verpissen solle. Selbst wenn man keine Eisenbahn mag, halte ich das für eine überzogene Reaktion.


Aber vielleicht ist das der Zerfall unserer Gesellschaft. Wie sagte doch gleich der Vorsitzende einer strukturkonservativen Partei? Jede Fridays-for-Future-Demonstration bringt der AfD aberhunderte Stimmen? Oder ging der Spruch anders?
Aber wenn es doch wenigstens mal um das Thema ginge, ob wir nun eine Neubautrasse entlang der BAB 7 bekommen oder die Bestandsstrecke weiter ausbauen. Drüben an der Autobahn will man keinen Neubau, in Meckelfeld will man keinen Neubau, einen Ausbau der Bestandsstrecke eigentlich auch nicht, und im Endeffekt wird dieses Projekt vielleicht einfach klanglos beerdigt aus Sorge, man verlöre noch weitere Wählerstimmen an die AfD.


Dann halt nicht.
Noch eine Anekdote zum Schluss: Als wir am 18. Juni mit der Hamburger Fahrradsternfahrt durch Meckelfeld fuhren, befand sich ein Treffpunkt auf dem dortigen Penny-Parkplatz. Ein paar hundert Meter weiter trafen sich die Eisenbahngegner auf dem EDEKA-Parkplatz zu einer eigenen Demonstration, was insofern zu Verwirrungen führte, als dass einige mit ihren Treckern bei uns parkten — viele Menschen an einem Sonntag auf einem Supermarktparkplatz, das muss ja die Eisenbahn-Demonstration sein. Recht schnell merkten die Leute, dass wir nicht wegen der Bahn hier waren, aber praktischerweise war man flexibel, denn wenn die Leute in Meckelfeld etwas noch weniger wollen als die Bahn, dann sind es Radfahrer. Und so verlegte man sich darauf, uns auch noch ein bisschen zu bepöbeln.
Das war aber wenigstens noch witzig.
Nun denn. Ich werde jetzt erst einmal weiterarbeiten. Ich muss ja noch die Rente für jene Zeitgenossen erwirtschaften, die mich gestern einen Nichtsnutz geschimpft haben.