Tja, was soll ich sagen? Es war alles komplett wirr und seltsam und im Endeffekt vier Stunden verlorene Lebenszeit für uns hinten im Zuschauerbereich.
Das ging ja schon mit der bangen Frage los, warum ein Vorfall aus dem Wiesendamm überhaupt am Amtsgericht Hamburg-Harburg verhandelt wird und nicht am Amtsgericht Hamburg-Mitte. Und warum stehen so viele Zeugen auf der Liste, wenn es doch nach dem Vorfall im Wiesendamm offenbar gar keine Zeugen gab?
Die Lösung war ganz einfach: Es ging nur sekundär um den Vorfall im Wiesendamm. In der Hauptverhandlung arbeitete sich die Vorsitzende an gleich zwei Verfahren ab, denn der Angeklagte war schon mindestens einmal polizeilich aufgefallen.
Vor knapp zwei Jahren fuhr er mit seinem Sohn und seiner Lebensgefährtin vom Klettern nach Hause über die Kattwykbrücke und den Moorburger Elbdeich entlang. Dabei geriet er mit einer Kraftfahrerin aneinander, die hinter ihm fuhr.
Was genau geschah ließ sich nicht mehr genau ermitteln, denn davon hatte quasi jeder Zeuge eine eigene Version. Der Angeklagte sagt, die Fahrerin wäre ihm dicht aufgefahren und hätte schließlich den Mittelfinger gezeigt, das habe er ganz genau im Spiegel gesehen. Die Geschädigte sagt auch unter dem Eindruck einer drohenden Vereidigung: Das stimmt gar nicht. Die Lebensgefährtin des Angeklagten sagte, der Sohn habe gemeint, die Geschädigte habe die Zunge herausgestreckt und der Angeklagte hätte sich erst bei seinem Sohn erkundigen müssen, was denn eigentlich passiert wäre.
Der Angeklagte überholte die Geschädigte und zwang sie mit seinem Auto zum Abbremsen. Das ist so ziemlich der einzige deckungsgleiche Abschnitt der Zeugenaussagen. Das muss sich ungefähr hier abgespielt haben.
Der Angeklagte sagt, er wäre ausgestiegen und habe draußen mit der Geschädigten im Auto das Gespräch gesucht. Die wäre dann jedoch plötzlich losgefahren, hätte ihn mit dem Spiegel erwischt und auf den gegenüberliegenden Gehweg abgedrängt, wo er dann rückwärts stürzte. Die Geschädigte sagt, sie wäre schließlich rechts am dem diagonal auf beiden Fahrstreifen stehenden Fahrzeug des Angeklagten vorbeigefahren. Ein anderer Zeuge sagte aus, die Fahrzeuge hätten direkt hintereinander gestanden, so dass er auf dem linken Fahrstreifen vorbeifahren konnte. Die Beifahrerin? Hat davon nichts mitbekommen oder konnte sich nicht erinnern.
An der Kreuzung zwischen dem Moorburger Elbdeich und der Waltersdorfer Straße geriet man wieder aneinander. Die Kreuzung dürfte jedem Teilnehmer der Hamburger Fahrradsternfahrt bekannt sein und genauso bekannt dürfte sein, dass der vorige Streckenabschnitt durch Moorburg außerordentlich eng ist und gar keine abenteuerlichen Überholmanöver zulässt. Trotzdem will man hier eine James-Bond-würdige Verfolgungsjagd veranstaltet haben.
An der Kreuzung stellte sich der Angeklagte auf den Linksabbieger-Fahrstreifen, die Geschädigte stand nebenan auf dem Fahrstreifen zum Geradeausfahren. Der Angeklagte habe ein Foto vom Kennzeichen schießen wollen, die Geschädigte habe dann Gas gegeben, er wäre auf die Motorhaube geschleudert worden und hätte sich am Autofenster festhalten müssen, dann wäre sie mit Vollgas ein Stück gefahren, bis sie wegen des vor ihr abbremsenden Autos ebenfalls anhalten musste. Zum besseren Verständnis wurde diese Szene als Darstellendes Spiel am Richterpult hängend dargestellt. Die Geschädigte sagt, sie habe ihn nicht „aufgeladen“, er habe ihr aber eine Ohrfeige verpasst. Stimmt nicht, sagt der Angeklagte, sie habe sich in die Wange gekniffen, mehrfach, um das nachzustellen.
Die Beifahrerin des Angeklagten hat gar nicht so viel davon mitbekommen, obwohl das Geschehnis direkt vor ihrem Beifahrerfenster aufgeführt wurde. Mal konnte sie sich nicht erinnern, mal brachte sie die beiden Situationen dieses Vorfalls durcheinander. Zwei weitere Zeugen beschrieben einigermaßen kongruent, dass die Geschädigte wohl eher nicht als Aggressorin in Erscheinung getreten ist und geweint hätte. Kluger Schachzug von der Verteidigung: Warum sind denn auf dem anschließenden Foto von der roten Wange der Geschädigten keine Spuren der verlaufenen Wimperntusche zu sehen, wenn sie doch angeblich geweint hätte?
Das Foto vom Kennzeichen habe der Angeklagte übrigens gelöscht, weil es verwackelt gewesen wäre. Aus meiner Sicht relativ unwahrscheinlich, dass ein Samsung S5 bei herbstlichem Mittagslicht ein verwackeltes Foto schießt, aber mag ja sein. Die Behauptung zerbröselte ohnehin recht schnell unter den Nachfragen von Gericht und Staatsanwaltschaft, denn erst war das Foto verwackelt, dann war das Kennzeichen nur halb drauf, dann war das Foto nur halb lesbar — irgendwas kam mir komisch vor. Fotos von den Schürfwunden und blauen Flecken, die sich untypischerweise direkt nach dem Vorfall gebildet haben sollen, liegen leider ebenfalls nicht vor. Auch im Protokoll der Polizei findet sich offenbar kein Hinweis auf solche Verletzungen, beziehungsweise dass die dazugerufenen Sanitäter etwas in der Art gesehen hätten. Die Geschädigte mitderen Nebenklage hingegen hat so ziemlich alles fotografisch dokumentiert, was sich nach dem Vorfall noch dokumentieren ließ.
Die Nebenklage war allerdings sowieso etwas seltsam, denn nach ihrer Aussage ging die Geschädigte nach Hause — und ihr Zeugenbeistand ebenfalls. Das war ungewöhnlich, ich lief noch mal nach unten, vielleicht war der Beistand nur kurz rauchen gegangen, die Vorsitzende schaute ebenfalls noch mal nach, aber sichtlich irritiert stellten wir fest: Die Nebenklage hat Feierabend gemacht. Wozu tritt man denn dann überhaupt als Nebenklägerin auf?
So undurchsichtig ging das weiter: Ein Zeuge hat gesehen, dass der Angeklagte auf die Motorhaube geschlagen hätte, die Geschädigte bestätigte diese Version. Ein anderer Zeuge sagt, der Angeklagte hätte bis zu den Schultern im Fenster der Geschädigten gesteckt und dort hantiert.
Und überhaupt: Wie kann man von einem Außenspiegel getroffen werden, wenn ein Auto anfährt, man aber am Fahrerfenster steht? Es bedurfte regelmäßiger Zeichenpausen, in denen der Angeklagte oder ein Zeuge der Richterin aufmalen durfte, wie die Fahrzeuge und Personen sich in einem bestimmten Moment zueinander befanden.
Für mich stellte sich die Situation soweit absolut undurchsichtig dar. Natürlich stand für mich angesichts des Wiesendamm-Videos schon fest, wer hier im Raum am Lenkrad häufiger mal die Nerven verliert, aber hier passte meines Erachtens nicht allzu viel zusammen.
Die ursprünglich für zwei Stunden angesetzte Verhandlung zog sich nunmehr dreieinhalb Stunden hin, bis die Zeugenbefragung zum ersten Themenkomplex abgeschlossen war. Es blieb noch eine halbe Stunde Zeit, bis um 15 Uhr die Protokollantinnen im Gericht Feierabend machten, also wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine Eröterung des Verfahrenstandes betrieben.
Bis dahin erfuhren wir noch ein paar neue Details zu dem Vorfall im Wiesendamm: Es gab noch ein zweites Video, das ein Jugendlicher auf dem Fahrrad vom Radweg aufgenommen hatte und zeigt, dass der Lkw-Fahrer den Radfahrer tatsächlich beinahe mit der Stoßstange erwischt, es wurden außerdem ein Vertreter seines Arbeitgebers und offenbar noch ein weiterer Zeuge geladen. Und: Der betroffene Radfahrer wurde just am Vortage ermittelt. Es stand also durchaus zur Debatte, den zweiten Teil der Sitzung zu vertagen, um sich noch mal ganz in Ruhe dem Wiesendamm-Komplex zu nähern.
Das Ergebnis der Eröterung des Verfahrenstandes war jedoch: Vorläufige Einstellung des Verfahrens im Sinne von § 153 StPO gegen eine Zahlung von 3.600 Euro an eine Organisation, die sich mit Sicherheit im Straßenverkehr befasst.
Die Story zum Wiesendamm kam leider nicht zur Sprache. Für den Angeklagten wohl nicht das schlechteste Ergebnis, denn wie er sich angesichts seines eigenen, ohne Not auf Facebook hochgeladenen Videos da noch irgendwie rechtfertigen wollte, bleibt mir schleierhaft. Zumal ja jedenfalls für mich als Zuschauer unter dem Eindruck dieses Videos und einer womöglichen Einlassung im Sinne von „habe die Nerven verloren“ seine Glaubwürdigkeit für den ersten Vorfall in Moorburg durchaus gelitten hätte.
Nun wäre es interessant zu wissen, ob sich die Führerscheinstelle für sein Nervenkostüm interessieren könnte — aber das werden wir wohl nie erfahren.