Du wirst lachen, aber im Grunde läuft die Entwicklung jeder Rechtsnorm seit unsere Vorfahren angefangen haben, ihre etablierten Verhaltensregeln aufzuschreiben, auf genau das hinaus. Soziologen nennen dies die "normative Kraft des Faktischen).
Gerade beim Straßenverkehrsrecht ist auch offensichtlich, dass sich bestimmte Praxen zuerst etablieren, und danach erst nachträglich im geschriebenen Recht legitimiert werden ("amerikanisches" Abbiegen, innerorts bei mehreren Fahrstreifen rechts Überholen, Warnblinker am Stauende auf der Autobahn wurden zB in einer älteren Uniroyal-Studie (Verkehrsuntersuchung 25, "Verfall der Sitten?") zum Thema genannt).
Der Aufzählung kann auch noch angefügt werden, dass es früher weniger selbstverständlich war, das Auto auf öffentlichen Verkehrsflächen am Fahrbahnrand zu parken. In der Präambel der Reichsgaragenverordnung von 1936 heißt es ja: "Die Förderung der Motorisierung ist das vom Führer und Reichskanzler gewiesene Ziel. Die Zunahme der Kraftfahrzeuge im Straßenverkehr erfordert, daß die öffentlichen Verkehrsflächen für den fließenden Verkehr frei gemacht und möglichst wenig durch ruhende Kraftfahrzeuge belastet werden. Zu diesem Zweck müssen die Kraftfahrzeuge dort, wo sie regelmäßig längere Zeit stehen, außerhalb der öffentlichen Verkehrsflächen ordnungsgemäß eingestellt werden."* Seit vielen Jahren dagegen wird es als selbstverständlich angesehen, dass Autos irgendwo im öffentlichen Straßenraum geparkt werden, häufig auch dort, wo das Parken oder gar das Halten eigentlich verboten ist. Von den Ordnungsbehörden wird das mehr oder weniger stark geduldet, wegen Personalmangel unzureichend überprüft, aufgrund politischer Anweisungen übersehen und die gesetzlichen Bestimmungen sehen keine ausreichenden Sanktionen vor, um das Falschparken zu reduzieren.
Reichsgaragenordnung, 1939, Abschnitt 1, 2 (§§ 1- 8)
In der Beschreibung der von dir erwähnten Studie heißt es: "In den letzten vier Thesen zu einer generalisierenden Betrachtung wird festgestellt, - dass weder national noch international ein einheitlicher Trend im Umgang mit den Verkehrsvorschriften erkennbar ist, - dass aeussere Zwaenge modifizierend auf regelkonformes und ruecksichtsloses Verhalten einwirken; - dass heute eine ausgepraegte Tendenz besteht, Regeln im situativen Kontext zu sehen und nach der individuell wahrgenommenen Gefaehrlichkeit ueber deren Befolgung zu entscheiden; - und dass es insgesamt keinen Anlass gibt, Veraenderungen in den Verhaltensweisen von Pkw-Fahrern waehrend der letzten zwei Jahrzehnte als einen Verfall der Sitten zu bezeichnen." https://trid.trb.org/View/947670 Ein Beispiel könnte die Öffnung von Einbahnstraßen für den Fahrrad-Gegenverkehr sein. Erst wurde von vielen Fahrradfahrer*innen ignoriert, dass sie eigentlich nicht gegen die Einbahnstraßenrichtung fahren dürfen. Dann wurde bei vielen Fahrradstraßen das für den Fahrradverkehr erlaubt:
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Aber genau das hat ja seine eigentliche Ursache darin, dass zunehmend mehr und mehr Straßen als Einbahnstraßen ausgewiesen wurden, um darin mehr Parkflächen zu haben, weil es eben zunehmend üblich wurde, das Auto dauerhaft am Fahrbahnrand zu parken.