Das hätte den Vorteil, dass jeder Kandidat persönlich vom Volk gewählt werden müsste. Es gäbe eben keine sicheren Listenplätze mehr, mit denen die Parteien ihre Bonzen ins Parlament bringen könnten. Deswegen sehe ich keine Chance für den Vorschlag.
Ich hatte bereits befürchtet, dass ich dich richtig verstanden hatte. Aber geht's vielleicht auch mit weniger Kraftausdrücken? Nicht so sehr deshalb, weil ich das ungehörig oder unanständig fände. Aber diese Zuspitzung verstellt den Blick auf die Fakten. Ich übersetze mal "Parteien, die ihre Bonzen ins Parlament bringen" wollen mit: Eine Partei ist verständlicherweise interessiert, ihre besten Leute ins Parlament zu bringen. Das ist nichts Unanständiges oder Anstößiges, sondern sehr verständlich.
In unserem gemischten Wahlsystem bietet die Parteiliste dazu eine Möglichkeit, indem die besten einer Partei auf die vorderen Listenplätze gesetzt werden. Was ist daran schlimm?
Daran kann ich nichts Anstößiges entdecken kann. Zumal in einem reinen Mehrheitswahl-System die Parteien ebenfalls die Möglichkeit haben, die Kandidaten aus ihren Reihen, die sie für die am besten geeigneten für die Parlamentsarbeit halten, beim Wahlerfolg zu fördern. Nämlich indem sie dafür sorgen, dass diese Kandidaten in Wahlkreisen antreten, die als sichere Wahlkreise gelten, bzw. die sich in der Vergangenheit als sichere Wahlkreise für diese Partei erwiesen haben.
Und noch etwas darf nicht übersehen werden: Kandidat*innen einer großen Partei, die auf den vorderen Listenplätzen stehen, gewinnen oft auch das Direktmandat in ihrem Wahlkreis. Die sind sozusagen "doppelt abgesichert". In unserem gemischten Wahlsystem können große Parteien ihre Kandidaten sozusagen "doppelt absichern". Selbst wenn es nicht gelingt, als Direktkandidat mit dem Wahlkreismandat ins Parlament zu ziehen, kann es über die Liste klappen. Oder umgekehrt, wenn die Partei unerwartet wenig Stimmen erhält, kann ein Kandidat über das Direktmandat einziehen. Diese "Absicherung über den Wahlkreis" ist allerdings ein Privileg der großen Parteien im gegenwärtigen Mix aus Verhältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht. Der aktuelle Wahlrechtsreform-Vorschlag der Ampel würde dieses "Absichern über den Wahlkreis" aushebeln. Finde ich nun nicht wirklich schlimm.
Einen lesenswerten Beitrag zum Thema kann man in der Wochenzeitung Freitag vom 10.10.2009 nachlesen. https://www.freitag.de/autoren…nicht-gewahlten-gewahlten
Der Freitag weist unter anderem darauf hin, dass direkte gewählte Abgeordnete auch dann gewählt sind, wenn sie deutlich unter 50% der Stimmen erhalten, weil die einfache Mehrheit der Stimmen im Wahlkreis ausreicht. In einem reinen Mehrheitswahlrechtssystem gäbe es Stichwahlen.
Wie auch immer: Für diese ganzen Feinheiten im gegenwärtigen Wahlsystem interessieren sich nur ganz wenige Wähler*innen. Dafür werden ganz viele Wähler*innen von der Komplexität des Wahlrechtes abgeschreckt. Der aktuelle Wahlrechtsreform-Vorschlag der Ampel kann das verbessern. Trotzdem wäre es nach wie vor ein Mix aus Verhältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht.
Vermutlich wird das zu guter Letzt von einem Gericht entschieden. Leider wird dadurch der falsche Eindruck bei den Wählern verstärkt, die Parteien seien irgendwie allesamt kriminell. Und es ist zu befürchten, dass die Umsetzung des Gerichtsentscheides erneut die Komplexität steigert, anstatt das Wahlrecht zu vereinfachen.