Du irrst Dich. Man hat gar nicht vom Baum der Erkenntnis genascht. Ein Blick in die Bundesratsdrucksache Nr. 374 vom 23.05.1997 macht das deutlich:
"Die Radwegebenutzungspflicht dient der Entmischung und der Entflechtung des Fahrzeugverkehrs. Sie ist aus Gründen der Verkehrssicherheit in der Regel sachgerecht. Allerdings befinden sich heute zahlreiche Radwege entweder in einem baulich unzureichenden Zustand oder entsprechen nach Ausmaß und Ausstattung nicht den Erfordernissen des modernen Radverkehrs. Die Benutzung solcher Radwege ist daher für Radfahrer im allgemeinen nicht ohne weiteres zumutbar. Andererseits ist es vertretbar, die Benutzung solcher Radwege dort noch anzubieten, wo dies nach Abwägung der Interessen für einen Teil der Radfahrer, z.B. ältere Radfahrer, vorteilhaft ist. Die Pflicht zur Benutzung von Radwegen wird deshalb auf solche Radwege beschränkt, die durch die Straßenverkehrsbehörde orts- und verkehrsbezogen mit Zeichen 237, 240 oder 241 gekennzeichnet sind."
https://dserver.bundestag.de/brd/1997/D374+97.pdf (...)
Also, ich habe die ganze Geschichte ja ein wenig anders in Erinnerung, auch wenn ich mich 1997 noch nicht sehr intensiv mit der Sache beschäftigt hatte.
Intention der Novelle von 1997 war schon, das Regel-/Ausnahmeverhältnis hinsichtlich Radwegebenutzungspflichten umzukehren. Um das zu verdeutlichen, sollten nur Radwege mit den blauen Lollies benutzungspflichtig und entsprechend gekennzeichnet sein. Die Kennzeichnung war/ist an gewisse Voraussetzungen geknüpft, welche die Straßenverkehrsbehörden binnen Jahresfrist (bis Oktober 1998) hätten überprüfen und entsprechend handeln müssen. Was in der Regel passiert ist: man hat ganz flott an den meisten Radwegen ohne VZ237/240/241 diese Schilder nachgerüstet. Das ging in vielen Fällen tatsächlich mal überraschend schnell, im Gegensatz zur Umkehrung, also wenn mal eines dieser Schilder entfernt werden soll.
Zeitgleich hat man in dieser Novelle auch den berühmten § 45 (9) StVO eingeführt. Das war sicher sinnvoll, denn man wollte die Flut an Verkehrszeichen eindämmen. Im Nachhinein kann man allerdings sicher sagen, dass das nicht funktioniert hat, weil keine Straßenverkehrsbehörde anfangs sich so wirklich mit diesem neuen § auseinandersetzen wollte, außer man sie hat sie dann irgendwann verwaltungsgerichtlich dazu gezwungen.
Dann gab es Leute (auch Juristen), die kolportierten, dieser § sei nur auf gewisse Verkehrszeichen/Verkehrsarten anwendbar - also bevorzugt auf solche, welche den Kfz-Verkehr einschränkten. Nur: das steht ja selbst bis heute nicht drin, obwohl mehrfach am Text dieses § herumgefummelt wurde (man hatte den § 45 Abs 9 StVO auch manchmal so als "Unfall" angesehen, der die Behörden vor viel zu hohe Hürden stellt, wenn sie ein VZ anordnen wollen). Andere wiederum - und dazu gehört auch das hier im Freistaat zuständige Staatsministerium des Innern - behaupteten, dass § 45 (9) StVO auf Radwegebenutzungspflichten keine Anwendung fände, denn das sei ja gar keine Einschränkung - man dürfe dort ja mit den Fahrrad fahren, wenn halt auch nur in der Gosse am Straßenrand. Man war darüber hinaus auch durchaus der Meinung (das Schreiben des bis heute amtierenden Staatsminister des Innern aus dem letzten Jahrzehnt müsste ich irgendwo haben), dass nach wie vor alle Radwege benutzungspflichtig (zu machen) seien, ganz unabhängig von deren Beschilderung.
Richtig aufgeräumt mit diesen (unrichtigen) Behauptungen hat dann erst 2009 das Urteil des bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Darin wurde das zwölf Jahre zuvor eingeführte Regel-/Ausnahmeverhältnis für Benutzungspflichten bestätigt und insbesondere klargestellt, dass es sich bei diesen Pflichten um eine Einschränkung für den Radverkehr handelt, da die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 GG) für Radfahrende beschnitten wird. Insbesondere stellt die Benutzungspflicht eine Einschränkung des fließenden Verkehrs dar, sodass § 45 (9) S. 3 (damals noch S. 2) StVO uneingeschränkt Anwendung findet. Mithin braucht(e) es eine verwaltungsgerichtlich voll überprüfbare tatbestandliche Voraussetzung für die Anordnung von Radwegebenutzungspflichten Das VGH-Urteil wurde bekanntlich im Jahr drauf vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt.
Jetzt war für die Behörden natürlich guter Rat teu(r)er: schon mit der ohnehin immer auszuübenden Ermessensentscheidung vor der Anordnung von Ge-/Verbotszeichen war man nie besonders sorgfältig umgegangen, aber da werden gerichtlich ja immer nur die Grenzen des Ermessens überprüft, das war recht dehnbar, und manche Verwaltungsgerichte winken das dann mal recht großzügig durch. Aber die tatbestandliche Voraussetzung musste doch ziemlich akribisch nachgewiesen werden... Also hat man die Gültigkeit dieses Satzes 3 (ex-2) mal rasch eingeschränkt. Allerdings gilt dieser immer noch uneingeschränkt für Radfahrverbote (VZ254) und auch für VZ205/206. Das hat man vermutlich einfach mal "übersehen". Allerdings kommt für dauerhafte Radfahrverbote noch das Straßenrecht (Widmung) ins Spiel - das wird es dann eh ziemlich haarig.
Die Ermessensausübung ist freilich in allen Fällen nach wie vor erforderlich. Und da heißt es bekanntlich in § 45 (9) S. 1 StVO:
"Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist."
Es gibt also immer noch zwei Voraussetzungen:
- Es müssen besondere Umstände vorliegen - und -
- Die Anordnung muss zwingend erforderlich sein.
Mir sind eigentlich kaum verkehrsrechtliche Anordnungen bekannt, die diese Kritierien hinsichtlich der ermessensfehlerfreien Abwägung erfüllen.
Vor kurzem bat ich zB um die Aufhebung einer außerörtlichen Benutzungspflicht. Da kam dann von der Behörde sinngemäß zurück: nö, ist außerorts, also passt das mit der Benutzungspflicht. Nur: Wo bitte steht das?