Es ist nun bald sechs Wochen her, dass meine Frau ihre 1. Impfung gegen das Corona-Virus bekam. Das war gleichzeitig der Zeitpunkt, zu dem meine Unzufriedenheit mit der Pandemiebekämpfung in eine ganz neue Dimension eintrat.
Denn zu den vielen widersprüchlichen Nachrichten über den Verlauf der Pandemie, die Bekämpfung mittels diverser so genannter Notbremsen und Vor- und Rückschlägen höre ich mir quasi jeden Tag neue Informationen über die Impfkampagne an; das ging los mit dem Desaster mit AstraZeneca, das dann irgendwie doch keins war.
Jedenfalls war mir am Tag, an dem ich meine Frau zur Impfung begleitet hatte, um eventuelle Nebenwirkungen auffangen zu können, plötzlich klar, dass ich selbst lange Zeit weder in den Genuss einer Impfung noch einen Begriff der Normalität gelangen sollte. Mir war damals freilich noch nicht klar, wie lange dieser Zustand noch andauern sollte oder noch andauern wird.
Denn obwohl mitterweile jeden Tag neue Rekordzahlen vermeldet werden und offenbar über eine Million Menschen pro Tag geimpft werden, sind wir bundesweit bei noch nicht einmal acht Prozent der Bevölkerung angekommen, die bereits ihre zweite Dosis erhalten haben. Während in Schleswig-Holstein seit gestern Gruppe 3 geimpft werden soll, warten meine über 70 Jahre alten Eltern immer noch auf einen Termin im Impfzentrum. Ein Bekannter in der gleichen Altersgruppe hatte dann einen Termin beim Hausarzt bekommen, der dann aber am Tag vor der eigentlichen Impfung wieder abgesagt wurde: Die Hausarztpraxis hatte statt 20 Impfdosen für eine Woche nur fünf bekommen. Schade.
Trotzdem soll, je nachdem, wer gerade auf der Bundespressekonferenz spricht, allen erwachsenen Bürgern bis Ende Juni ein Impfangebot unterbreitet werden sollen, vielleicht auch bis Ende Juli, vielleicht auch bis zum Herbst oder wenigstens noch in diesem Jahr, die Angaben variieren nach meiner Beobachtung sehr; aber man ist sich offenbar einig, dass im Laufe des Juni die Impfpriorisierung aufgehoben werden soll.
Und weil es ja offenkundig so gut läuft, sollen wenigstens in Schleswig-Holstein und Niedersachsen, offenbar auch in Hamburg und anderen Bundesländern die relativ teuren Impfzentren wieder geschlossen werden, weil die Impfkampagne über die Hausärzte besser organisiert werden könne. Denn Hausärzte, so las ich zu meinem großen Erstaunen in diversen Lokalzeitungen, kennen ihre Patienten ja supergut und könnten selbst eine Reihenfolge zur Impfung erarbeiten, so dass alle Erwachsenen, die ein Interesse an einer Impfung hätten, so schnell wie möglich versorgt werden könnten.
Nun stehe ich vor dem Problem, dass wir vor knapp zwei Monaten nach Lüneburg umgezogen sind und ich noch gar keinen Hausarzt habe. Meinen letzten „richtigen“ Hausarzt hatte ich 2009 in Büdelsdorf. Seitdem bin ich mehrmals umgezogen, erst nach Wedel, dann nach Hamburg, dann nach Kiel, nun nach Lüneburg, und in dieser Zeit hatte ich zwei Ärzte, bei denen ich jeweils drei oder vier Mal war, wenn ich wegen Fieber dann doch nicht zur Arbeit fahren konnte und den berühmten gelben Schein brauchte. Das waren aber keine Hausärzte im eigentlichen Sinne.
Nun brauche ich hier in Lüneburg einen neuen Hausarzt. Leider gesagt als getan, denn diesem Gedankengang sind in der jüngeren Zeit eine ganze Menge Menschen in meinem Alter gefolgt, so dass die meisten Ärzte entweder lange Wartelisten führen oder überhaupt gar keine Patienten mehr aufnehmen oder schon gar nicht mehr ans Telefon gehen, sondern nur per Bandansage deutlich machen, dass man bitte von Nachfragen zur Corona-Impfung Abstand nehmen möge. Aus meinem Umfeld höre ich, dass viele Menschen in meiner Situation und in meiner Altersgruppe vor ähnlichen Problemen stehen: Woher soll denn eine Generation, von der hinsichtlich des Arbeitsplatzes eine maximale Flexibilität gefordert wird, die vermutlich öfter umzieht als die meisten früheren Generationen, einen Hausarzt zaubern? Andere wiederum berichten genervt, dass ihr Hausarzt zwar an der Impfkampagne teilnimmt, aber Menschen ohne Vorerkrankungen um die 30 Jahre wohl erst im neuen Jahr an der Reihe wären.
Wie auch immer: Ich sehe beim besten Willen nicht, dass ich in diesem Sommer geimpft werde.
Und das ist einerseits vollkommen okay: Ich bin einigermaßen gesund, ich habe keine nennenswerten Vorerkrankungen, nur der Rücken kracht halt manchmal etwas doll, aber was soll’s. Ich hätte wohl statistisch gesehen gute Chancen, eine Covid-19-Erkrankungen ohne Intensivstation zu überleben, und was anschließend mit dem so genannten LongCovid wäre, naja, dann seh ich’s sportlich, dann brauche ich immerhin kein Geld für ein neues Rennrad ausgeben. Aber: Ich kann als Software-Entwickler ohne Kundenkontakt theoretisch den Rest meines Lebens von zu Hause arbeiten, ich habe keine Kinder, ich muss niemanden pflegen, ich pflege nicht einmal besonders viele soziale Kontakte, insofern bin ich tatsächlich einer der letzten Menschen auf diesem Planeten, die auf eine Impfung angewiesen wären.
Ich sehe drum auch noch nicht einmal irgendwelche Chancen, über einen Betriebsarzt geimpft zu werden — oder ich formuliere es mal andersherum: Bevor der Betriebsarzt mich impft, sind erst noch mal eine ganze Menge anderer Betriebe an der Reihe, etwa Arbeiter in Fabriken oder Angestellte im Einzelhandel oder vor allem Eltern, die über ihre Kinder Zugang zu einer mannigfaltigen Fülle an Viren erhalten.
Und das ist vollkommen okay: Viele Menschen wären wohl sogar neidisch auf meine Möglichkeit, der Pandemie einfach aus dem Weg zu gehen, ohne dass ich mich besonders einschränken oder über Gebühr fürchten könnte. An meiner theoretisch maximalstmöglichen Gelassenheit merke ich erst, wie privilegiert ich in dieser Pandemie eigentlich bin, dass ich mir um nichts Sorgen machen muss, weder um meine Gesundheit noch um meinen Arbeitsplatz.
Ich habe nur ein großes Problem damit, in welchem Tempo jetzt Lockerungen und Freiheiten für geimpfte Menschen etabliert werden sollen. Einerseits weil ich tief in mir drin auch gerne zu dieser Gruppe gehören möchte, andererseits, weil ich noch immer nicht einschätzen kann, was das für mich bedeuten.
Denn natürlich kann ich verstehen, dass jegliche Einschränkungen für geimpfte Personen aufgehoben werden müssen. Wenn jemand nicht mehr ansteckend ist, warum sollte er nicht ins Restaurant, ins Kino oder in ein Hotel gehen, warum sollte er noch eine Maske tragen, Abstand halten? Aber was ich nicht so richtig einschätzen kann: Sind geimpfte Menschen denn tatsächlich für andere gänzlich ungefährlich? Darüber höre ich auch ungefähr alle zwei Tage andere Erkenntnisse. Bislang ist zwar noch nicht die Rede davon, dass auch die Maskenpflicht nicht mehr gelten soll, aber angesichts der Flexibilität, mit der die Politik in der Vergangenheit den Begehrlichkeiten aus der Wirtschaft stattgegeben hat, mag ich ja nicht glauben, dass die Maskenpflicht diesen Monat noch überlebt.
Nun habe ich eigentlich gar kein großes Interesse an Urlaubsreisen, aber hin und wieder mal ins Restaurant oder ins Kino gehen wäre schön schon. Nun gut, das muss Lisa-Marie dann eben alleine machen. Ich wäre schon zufrieden, wenn ich auch in diesem Sommer hin und wieder mal eine Radtour unternehmen kann, durch die rauschenden Wälder Niedersachsens und an der Elbe entlang kurbeln kann. Einfach mal hin und wieder raus, den Sommer genießen, und allen anderen Menschen aus dem Weg gehen.
Denn wenn wir mit fortschreitender Impfung und aufgehobenen Kontaktbeschränkungen dafür sorgen, dass die Pandemie dann nur noch unter den 75 oder 50 oder 25 Prozent der ungeimpften Bevölkerung köchelt und kursiert, dann sehe ich ja doch gewisse Nachteile für mich: Dann weiß ich nämlich nicht, ob ich unbedingt bei einer Radtour beim Warten an einer roten Ampel anderen Menschen ohne Maske nahe kommen möchte. Dann weiß ich auch nicht, ob ich unbedingt einkaufen gehen will, wo ich dann dutzenden Menschen ohne Maske und ohne Abstand begegnen muss.
Und irgendwie sehe ich schlussendlich das Problem, dass wir hier ganz schön viel Hoffnung in einen normalen Sommer unter normalen Bedingungen schüren, ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung diesen Sommer aber vom Balkon oder durch geschlossene Fenster genießen muss, weil das mit den Impfungen halt doch nicht so geil läuft.
Und ich mache mir ordentliche Sorgen, ob unsere Gesellschaft es aushalten wird, wenn die einen wieder unbeschwert am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen, die anderen sich aber ein weiteres Jahr in Solidarität üben dürfen, die von den bereits geimpften Menschen nur sehr bedingt erwidert wird.