Von dem Umstand, dass ein Radfahrer ohne Licht oder ohne Helm gefahren ist, kann der geneigte Leser nichts wissen. Deshalb wird es erwähnt.
Dass der Kraftfahrer hingegen beim Zurücksetzen nicht sorgfältig genug war, ist offenkundig.
Zu der Schuldfrage ist in beiden Fällen nichts ausgesagt.
Gut, der Punkt geht erstmal zu einem Großteil an dich. Ich bin dann aber der Meinung, dass in diesem System der Unfallmeldungen ein ganz grundsätzliches Problem steckt, denn wenn abends im Presseportal die Meldungen des Tages veröffentlicht werden, steht in den seltensten Fällen der Unfallverursacher oder der genaue Unfallhergang fest. So entstehen dann solche Phrasen wie „der Kleinwagen geriet aus ungeklärter Ursache von der Fahrbahn ab“ — man weiß zum Zeitpunkt der Veröffentlichung eben noch nicht, ob der Fahrer vom Smartphone abgelenkt oder betrunken war, ob er viel zu schnell gefahren ist oder aufgrund einer bislang unbekannten Erkrankung kurzzeitig ohnmächtig war.
Aber es folgt in den seltensten Fällen eine Folgemeldung über einen Unfall, in der fünf Wochen später steht: Es war unangepasste Geschwindigkeit. Nichts ist uninteressanter als die Zeitung von gestern und gleiches gilt erst recht für Unfälle, die Wochen zurück liegen.
Ich persönlich begreife diese Polizeimeldungen als einen Teil dessen, was in der Fahrschule als „lebenslanges Lernen“ bezeichnet wurde: Man lernt jeden Tag mit jeder Teilnahme am Straßenverkehr dazu. Die Meldungen von Unfällen sollten nach meinem Dafürhalten nicht nur aufzeigen, dass irgendjemand irgendjemanden angefahren hat, sondern auch dafür sensibilisieren, dass Unfälle eben nicht nur eine Randnotiz in der Lokalzeitung sind, sondern jeden von uns treffen können.
Es gibt zum Beispiel den § 3 Abs. 1 StVO, der unter anderem besagt:
Zitat
Wer ein Fahrzeug führt, darf nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Die Geschwindigkeit ist insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Beträgt die Sichtweite durch Nebel, Schneefall oder Regen weniger als 50 m, darf nicht schneller als 50 km/h gefahren werden, wenn nicht eine geringere Geschwindigkeit geboten ist. Es darf nur so schnell gefahren werden, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann. Auf Fahrbahnen, die so schmal sind, dass dort entgegenkommende Fahrzeuge gefährdet werden könnten, muss jedoch so langsam gefahren werden, dass mindestens innerhalb der Hälfte der übersehbaren Strecke gehalten werden kann.
Es gibt drüben im Verkehrsportal Berechnungen, dass mit einem normalen Kraftfahrzeug auf einer Überlandstraße nachts ein Tempo von 60 bis 70 km/h das höchste der Gefühle ist, möchte ich dieser Vorschrift entsprechen. Jeder, der schon mal nachts auf einer Überlandstraße mit einem Auto gefahren ist, wird mir sicherlich zustimmen, dass das außer ein paar ganz hartgesottenen StVO-Liebhabern niemand praktiziert, sondern ganz im Gegenteil tendenziell eher deutlich schneller als 100 km/h gefahren wird.
Kurz vor dem Abitur gab es in meinem Umfeld zwei schwere Verkehrsunfälle, im Laufe meines Studiums verunglückten außerdem insgesamt drei (?) Kommilitonen — allen Unfällen war eines gemeinsam: Sie trugen sich in den Nächten von Freitag auf Sonnabend oder von Sonnabend auf Sonntag zu und der Fahrer geriet jeweils aus ungeklärer Ursache von der Fahrbahn und landete im Feld. Glücklicherweise gab es noch eine Gemeinsamkeit: Alle haben überlebt.
Und eigentlich war auch die Ursache ziemlich klar: Die jungen Herrschaften hatten ihre Fähigkeiten überschätzt, waren auf unbekannter Strecke zu schnell unterwegs und sahen nachts eine scharfe Kurve nicht frühzeitig genug, um noch rechtzeitig am Lenkrad drehen zu können.
Und obwohl hinreichend bekannt ist, dass überhöhte Geschwindigkeit eine Hauptunfallursache ist, mangelt es nach meinem Dafürhalten an greifbaren Beispielen dafür. Ich kann mich tatsächlich nicht daran erinnern, dass irgendwo mal in einer Polizeimeldung stand, man möge doch bitte auf nächtlichen Überlandfahrten seine Geschwindigkeit im Sinne von § 3 Abs. 1 StVO anpassen.
Was ich aber dauernd lese, obwohl die Schuldfrage nicht geklärt ist, sind kluge Ratschläge an nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer: Tragt eine Warnweste! Fahrt nur mit Licht! Setzt einen Helm auf! Verzichtet auf eure Vorfahrt! Steigt ab und schiebt!
Denn selbst wenn ein verunfallter Radfahrer womöglich gar kein schuldhaftes Verhalten an den Tag gelegt hat, wird mit diesen Ratschlägen impliziert, dass er halt doch irgendwas falsch gemacht hat. Und sei es, dass er nicht rechtzeitig auf seine Vorfahrt verzichtet hat. Plus: Der Radfahrer ist immer eine Person, die aktiv etwas falsches tut. Der Kraftfahrer hingegen wird hinter der Windschutzscheibe verborgen und tritt mitunter gar nicht in Erscheinung, sein Auto handelt für ihn:
Während Autos rote Ampeln übersehen, werden sie von Radfahrern in der Regel missachtet. Während Autos aus ungeklärter Ursache von der Fahrbahn abkommen, wechseln Radfahrer unvermittelt vom Radweg auf die Fahrbahn. Während Autos aufgrund der tiefstehenden Sonne einen Fußgänger auf die Motorhaube laden, werden Fußgänger von Radfahrern gerammt. Während Autos aufgrund von Glatteis nicht rechtzeitig zum Stehen kommen und ein anderes Auto touchieren, waren Radfahrer trotz schlechter Witterung unterwegs und krachen ineinander.
Ich finde, das ist schon ein deutlicher Unterschied, der auch eine gewisse Schuldfrage impliziert, auch wenn sie dort nicht explizit erwähnt wird.
Und daraus resultiert dann auch, dass ich dir hier nicht zustimme:
Dass der Kraftfahrer hingegen beim Zurücksetzen nicht sorgfältig genug war, ist offenkundig.
Wann immer ich mich im Verwandten- oder Bekanntenkreis unterhalte, mich an Diskussionen in gesellschaftlichen Netzwerken beteilige, als Geschädigter oder Zeuge vor Gericht aussage oder bei der Unfallaufnahme zugegen bin, es fällt mir immer wieder auf, dass in unserer Gesellschaft so gut wie gar keine Sensibilisierung dafür erfolgt, dass man mit einem Kraftfahrzeug jemanden gefährden kann. Ich erinnere mich daran, dass mal jemand aus meinem Umfeld beim Abbiegen ein Kind auf einem Fahrrad „übersehen“ und angefahren hat. Das war quasi das normalste der Welt — das Kind war ja auch ganz bestimmt ganz schön schnell unterwegs. Außerdem: Radfahrer! Erst letzte Woche beim Bäcker, da ist einer mit dem Rad falsch herum auf dem Radweg gefahren!
Da hat keiner auf den Tisch gehauen und darauf hingewiesen, dass man nicht nur ein zwei Tonnen schweres Kraftfahrzeug, sondern auch eine gewisse Verantwortung besitzt und sich dementsprechend umsichtig beim Abbiegen lieber drei Mal aufpassen sollte. Stattdessen warf man sich gegenseitig die Anekdoten als Beruhigungstabletten ein, dass man als Kraftfahrer sowieso nichts machen könne, weil Radfahrer ja alle ohne Licht führen. Das war eine recht unangenehme Situation.
Wenn ich dann aber in der Zeitung bei vergleichbaren Unfällen keinen Hinweis finde, dass ich als Kraftfahrer beim Abbiegen allerhöchste Sorgfalt walten lassen muss, wohl aber lese, dass Radfahrer bitte eine Warnweste tragen, mit Licht fahren und im Zweifelsfall auf die Vorfahrt verzichten sollen, dann ist das zwar in erster Linie nicht verkehrt, verfestigt aber das Bild im Kopf des Lesers, dass Radfahrer ja irgendwie schuld an solchen Unfällen wären.
Und dementsprechend hast du auch wieder teilweise recht:
Es wäre aber sinnvoller, wenn man die Kritik an denjenigen richtet, den sie betrifft und dies nicht bis zum Ende seiner Tage gebetsmühlenartig in einem Forum vorträgt, wo man sich der Bestätigung sicher sein kann. Da entsteht dann doch der Eindruck, dass hier lediglich eine kleine, geschundene Seele nach etwas Zuspruch sucht, um sich dann besser zu fühlen.
Ja, ich sollte wieder häufiger Leserbriefe schreiben. Das habe ich in den vergangenen Monaten deutlich schleifen gelassen. Ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, dass es die meisten Journalisten auch gar nicht interessiert und die Polizei mit dieser Art der Kritik sowieso nichts anfangen kann. Letztere glaubt nach meiner Erfahrung, der Verkehrssicherheit einen großen Gefallen zu tun, so oft wie möglich auf Helme und Warnwesten hinzuweisen.
Dennoch halte ich es nicht für überflüssig oder gar falsch, derartiges hier in diesem Thread aufzulisten: Irgendwo muss diese Gegenrede öffentlich gemacht werden. Es gab früher sogar ein eigenes Blog allein zu dieser Thematik, dessen Namen ich mittlerweile gar nicht mehr weiß (obwohl ich stets verdächtigt wurde, der Urheber des Blogs zu sein), jetzt steht es halt hier. Häufig genug verlinke ich in unterschiedlichen Debatten in den einschlägigen gesellschaftlichen Netzwerken in diesen Thread mit dieser Fülle an Beispielen, insofern ist es nicht so ganz sinnlos.
Allerdings hast du recht: Bei den allzu tollen Beteiligungen mit der tiefstehenden Sonne geht es mitunter auch einfach erst einmal darum, etwas Frust loszuwerden.