Es steht ja angesichts meiner bummeligen Durchschnittsgeschwindigkeit außer Frage, dass ich mit einer Nettofahrzeit von deutlich mehr als 24 Stunden am Ende herauskommen werde, sofern ich es denn überhaupt schaffe. Meine bislang längste Tour waren 226 Kilometer am Stück — das ist nun bald fünf Jahre her und ich habe seitdem nichts vergleichbares geschafft, was irgendwie länger als 130 Kilometer wäre.
Aber einmal im Jahr, etwa um diese Zeit, fahren ja ein paar Radlinge aus der @harald_legner-Gang von Berlin nach Hamburg (oder von Hamburg nach Berlin und wieder zurück) und ich habe es in den letzten vier Jahren nicht geschafft, es wenigstens mal zu versuchen. 2016 erfuhr ich erst nach der Tour von diesem ganzen Vorhaben, 2017 machte das Knie nicht mit, 2018 hatte ich beruflich noch kurzfristig etwas zu tun, im Jahr 2019 brannte der Wald bei Lübtheen, so dass ich einen nicht unerheblichen Teil der Strecke in der „Rußwolke“ gefahren wäre, 2020 folgte die Corona-Pandemie, 2021 ist jetzt und nun spielt das Wetter nicht mit.
2022 will mich die Bundesbahn verkohlen: Der ICE-T mit seinen drei Fahrradstellplätzen rollt voll besetzt mit drei Fahrrädern und einigen Koffern und Kinderwagen im Fahrradabteil ein, aber natürlich hat 20 Minuten vor dem Zielbahnhof niemand mehr Lust, sich jetzt den ganzen Ärger an Land zu ziehen und herumzufragen, wem nun das eine Rad gehört, das offenbar ohne Reservierung unterwegs ist, geschweigedenn sich mit den Besitzern der Kinderwagen herumzuschlagen. Also verweist man mich auf den Nahverkehr, der in einer halben Stunde führe, damit wäre ich auch Ratzfatz in Hamburg.
Nun kann man sich ja bei diesem Vorgehen wundern, ob ich womöglich in Hamburg einen Anschlusszug erreichen möchte, der vielleicht keine halbe Stunde wartet — oder der Metronom momentan bis Ende September aufgrund des erhöhten Verkehrsaufkommens aufgrund von Baumaßnahmen und Neun-Euro-Ticket gar keine Fahrräder transportiert. Aber war soll’s, Tür zu, das Urteil der Bundesbahn ist in solchen Fällen sakrosankt und den Anweisungen des Bahnpersonals ist Folge zu leisten und es besteht ja sowieso kein Anspruch auf Beförderung von Drahteseln.
Nächster Versuch am Dienstag: Immerhin schaffe ich es bis Hamburg, dort rollt der Anschlusszug nach Berlin ein. Drinnen: Ein Fahrrad, diverse Koffer, zwei Kinderwagen. Ich steige mit meinem Fahrrad ein und werde vom freundlichen Zugpersonal direkt wieder rauskomplimentiert: „Sie dürfen beim Einsteigen Ihr Gepäck nicht am Fahrrad lassen!“ — „Ist nicht Ihr Ernst jetzt, oder?“ Keine Chance: Wir wiederholen das wie in der Grundschule so lange, bis es alle richtig machen. Also stehe ich wieder draußen, während eine andere Dame ihr Glück versucht, die trotz einer Fahrradtasche am Gepäckträger einsteigen darf.
Nun stellt sich die Situation wie folgt dar: Zwei von drei Fahrradstellplätzen belegt, einer blockiert von Koffern und Kinderwagen. Zwei Damen, die dem Kinderwagen zugehörig sind, diskutieren mit dem Zugpersonal, warum ihnen nicht beim Einsteigen geholfen wurde und wo sie denn mit ihrem Koffern bleiben sollten, wenn nicht im Fahrradabteil, und überhaupt, kann der Radfahrer nicht mit dem Fahrrad fahren? Mir ist das alles zu dumm.
Gnädigerweise darf ich dann aber doch noch zusteigen. Und nun muss es natürlich ganz genau sein: Beide Fahrradtaschen abnehmen, dann einstei… Oh, Oh! Am Lenker ist ja auch noch eine Tasche! Die muss auch ab! Okay, aber jetzt. Vor lauter Observierungsdrang geht das Bahnpersonal auch keinen Schritt zur Seite, sondern steht lieber im Weg rum, damit man gut gucken kann, ob auch wirklich keine Tasche am Fahrrad hängt. Ich spiele das Spiel gerne mit und stelle mich extra blöd an — hüpfte ich beim ersten Mal mit drei verbotenen Taschen noch leichtfüßig die zwei Stufen in den ICE rein, fällt es mir mit dem nun ungleich leichteren Rad ohne Taschen deutlich schwerer. Okay, das Rad ist dann drin und wer die Fahrradhalterungen im ICE-T kennt, weiß, dass das eine ganz schön enge Sache ist, weil zwischen Lenker und dem darüber angeordneten Gepäckregal nur ungefähr eine Handbreit Platz verblieben ist und meine drei Taschen stehen ja immer noch draußen. Das Zugpersonal tauschte mittlerweile die Berufung von Zugbegleiter zum Druckkochtopf, denn nun will man ja abfahren, aber Ordnung muss sein.
Ich bin nicht stolz darauf, im Zweifelsfall so gut in die Rolle des Arschlochs zu passen. Aber wenn mir die Leute dauerhaft die ganze Zeit dumm kommen, gebe ich mir mit Höflichkeiten nicht besonders viel Mühe.
Die Damen mit dem Kinderwagen schicken die ganze Fahrt lang unentwegt Sprachnachrichten an den offenkundig recht großen Bekanntenkreis und informieren jeden darüber, dass ihnen niemand beim Einsteigen geholfen hat und der Radfahrer mit seinem „Scheißfahrrad“ noch Vorrang vor ihrem Kinderwagen hätte. Ist mir dann aber auch irgendwann egal.
Gut. Dann irgendwann in Berlin angekommen. Durch den einzigen Aufzug, der den Bahnsteig zwischen den Gleisen 7 und 8 mit der Oberwelt verbindet, raus in die Hitze. Und los.
Der Berliner Straßenraum ist bereits für den Marathon vorbereitet, insofern habe ich erst einmal freie Bahn, werde dann aber im weiteren Verlauf freundlichst auf die soziale Benutzungspflicht der Berliner Radwege hingewiesen. Gut, also rauf auf den Radweg, ich will eine Radtour, die mehr als zwölf Stunden dauern wird, nicht mit Stress beginnen.
Auf dem Radweg dauert es keine 300 Meter, bis ich in den ersten Unfall verwickelt bin: ein Kraftfahrer will in eine Hofeinfahrt abbiegen, kann durch die parkenden Kraftfahrzeuge und mit dem Handy am Ohr keinen Blickkontakt herstellen. Weil ich aber vom Rad den Überblick habe und sowohl Kraftfahrzeug als auch Handy am Ohr sehe, bremse ich ab und lass den Typen erstmal die Motorhaube auf den Radweg rangieren, bevor er mal nach rechts guckt, ob auf ebenjenem Radweg schon jemand fährt.
Da fährt auch einer, nämlich mir hinten rein: Ein weißes Brommie, mit dessen Fahrer ich mich vorhin schon über die Aggressionen im Berliner Straßenverkehr ausgetauscht hatte. Der Fahrer stürzt zur Seite, die Kette springt ab, der Kraftfahrer sieht zu, dass er in der Hofeinfahrt verschwindet und mit allem nichts zu tun hat. Tja. Wir unterhalten uns noch eine Weile, es ist ja nichts passiert, wie man so schön sagt, er gleist die Fahrradkette wieder auf, ich sorge für feuchte Tücher zum Abwaschen der Hände, dann fahren wir weiter.
Ich hätt ja an seiner Stelle geheult.
Nachdem ich irgendwann aus Berlin raus war, machte die Sache auch endlich Laune. Die einzelnen Dörfer in der Mark sind mitunter mit kleinen Fahrradstraßen verbunden, die diese Bezeichnung zwar eigentlich nicht verdienen, aber hey, es sind kleine Fahrradstraßen, da werde ich mich nicht beschweren, denn ich komme außerordentlich gut voran.
In Rathenow kehre ich bei einem börsennotierten Hackbrötchenbäcker ein, genieße zwei vegetarische Burger und einen hervorragenden Service, nachdem man erst etwas pikiert war, dass da jemand sein Fahrrad einfach auf der Terrasse parkt, erledige noch ein paar Online-Termine und gebe dann so richtig Vollgas, denn jetzt kommt, worauf ich seit mehreren Jahren gewartet hatte:
Dann wird’s aber langsam blöd und ich merke, wie die Kräfte schwinden. Erstmal ein kleines Päuschen auf irgendeinem Spielplatz irgendwo in der Altmark. Kurz darauf ist dann endgültig der Akku leer und ich döse eine Stunde in irgendeiner Bushaltestelle irgendwo im Nirgendwo, wo um diese Zeit nicht mal Autos vorbeifahren. Dafür zeigt sich bald schon der Mond und ruft zum Aufbruch:
Weiter geht’s durch die Nacht, durch Salzwedel bis Bergen an der Dumme, wo so langsam die ersten Bäcker öffnen und die Sonne aufgeht. Allein für diese Motive hat sich der ganze Ärger schon gelohnt. Einfach gigantisch. Alles richtig gemacht. Welch eine Ehre, diesem Schauspiel beiwohnen zu dürfen:
Nun verlangt der Körper nach einer weiteren Pause und ich biege zu dieser äußerst unkomfortablen Grillhütte ab. Mehr schlecht als recht verbringe ich hier zwei Stunden, bis die Sonne die Luft weit genug erwärmt hat, dass ich ohne Jacke und Wollpulli weiterfahren kann:
Und standen am Vortag noch häufig 25 km/h oder mehr auf dem Tacho, schaffe ich es jetzt mit Müh und Not gerade mal in den Bereich von 15 bis 20 km/h. Mehr ist einfach nicht drin. So werden die letzten 70 Kilometer bis Lüneburg auch kein ganz großes Vergnügen mehr und ich halte mich ständig auf, um etwas zu trinken oder noch mal eine Portion Schokoriegel einzuwerfen. Es macht keinen Spaß mehr. Daran änderte dann auch das leckere Frühstück nichts mehr:
Würde ich’s noch mal tun? Bestimmt. Aber nicht mehr in diesem Jahr. Ich weiß nicht, ich muss mir erst einmal überlegen, wie ich verhindern kann, nach der Hälfte der Strecke in ein solches Loch zu fallen und nur deshalb nicht auf die Bahn umzusteigen, weil die zwischen Uelzen und Lüneburg ja keine Fahrräder mitnimmt.
Hat sich’s gelohnt? Ja, auf jeden Fall. Jetzt kann ich in Frieden sterben.
Hier ist die Route auf Strava: https://www.strava.com/activities/7349558083