Gestern habe ich mir im IC 2226 beinahe den Arm gebrochen — glücklicherweise blieb es aber bei einer ordentlichen Prellung im linken Handgelenk. Das ist also die zweite ernsthafte Verletzung in den letzten zwölf Monaten Bimmelbahn, seitdem mir eine glühende Bremse im RE 7 eine prächtige Rauchgasvergiftung verschafft hatte.
Es begann eigentlich ganz harmlos: In Hamburg stieg ich den aufgrund von Unwetterschäden in Süddeutschland um eine Stunde verspäteten IC 2226 nach Kiel. In Wagen 5, der sich aufgrund einer ausgefallenen Klimaanlage in eine Sauna verwandelt hatte. Auf dem Weg vom Hauptbahnhof zum ungefähr 50 Meter entfernten Bahnhof Dammtor machten sich zwei Senioren mit Elektrorädern zum Ausstieg bereit.
Und man merkte schon da: Das wird nicht funktionieren. Wer kaum das Rad aus der Fahrradhalterung gehoben kriegt, wird erst recht beim Ausladen aus dem Zug durch die enge Tür mit drei Stufen seine Probleme bekommen. Außerdem hatten beide noch mehr Taschen dabei als ich jemals an meinem ebenfalls zur Überladung neigenden Schneeweißchen befestigt hatte.
Gut. Wir halten im Bahnhof Dammtor. Die Tür öffnet sich, der Senior hebt mit Ach und Krach sein E-Bike auf den Bahnsteig, das dort scheppernd abgestellt wird. Ihr wisst, ich bin für meine Geduld und Höflichkeit bekannt, aber ich merkte, dass mein Kragen im Begriff zu platzen war und beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Nun bin ich als Informatiker naturgemäß mit eher dünnen Ärmchen auch nicht so richtig gut ausgestattet, aber für das olle E-Bike hat’s gerade noch gereicht. Flink transportiere ich noch ungefähr zehn schwere Taschen vom Wagen auf den Bahnsteig, als sich die Tür plötzlich zu schließen begann.
Sowas läuft dann wie in Zeitlupe: Drinnen wartete nicht nur Brompti auf mich, sondern auch der Rest meines Hausrates, also Geld, Fahrkarte, Handy, Notebook, so ziemlich alles. Ich sprang schnell wieder in den Wagen, was in meiner Erinnerung vermutlich deutlich filmreifer und knapper war als in Wirklichkeit, und versuchte anschließend zusammen mit der immer noch im Gang stehenden Seniorin die Tür wieder aufzustemmen.
Da sich eine IC-Tür so langsam nicht schließt, liegt es wohl nahe, dass meine Erinnerung das ein bisschen dramatisiert.
Aber nun standen wir da und versuchten die Tür wieder aufzudrücken, damit die Dame aussteigen und die letzten beiden Taschen mitnehmen konnte. Allein: Die Tür ließ sich nicht stemmen. Stattdessen brüllte ich die Frau entgeistert an, sie möge endlich den Arm aus der Tür nehmen, mit der sie wohl die Hand ihres Mannes greifen wollte, weil ich die Tür nicht mehr halten konnte.
Immerhin das funktionierte, die Dame ergab sich ihrem Schicksal und die Tür schloss mit einem genussvollen Schmatzen. Geistesgegenwärtig schoss ich noch ein letztes Foto, dann dampften wir ab:

Die Frau war natürlich außer sich vor Angst und Wut und machte sich auf die Suche nach der Notbremse, von deren Betätigung ich sie glücklicherweise abhalten konnte. Soweit, so scheiße. Irgendwann in Höhe von Hamburg-Eidelstedt trieben wir eine Zugbegleiterin auf, die uns erst einmal klar machte, dass das Herumfummeln an der Notbremse ein gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr wäre und bei der Abfertigung des Zuges jeweils zwei Kollegen aufpassen, dass die Türen nicht geschlossen werden, bevor alle ein oder ausgestiegen wären.
Gut. Nun mit der Dame streiten, dass ich ja nun ganz offenkundig noch mehrmals ein- und ausgestiegen bin, um beim Ausladen der Räder zu helfen? Oder lieber drauf sitzenbleiben, dass wir schon irgendwie selbst schuld an der Misere wären, weil wir einfach zu langsam waren?
Ich beließ es bei Diplomatie und fragte nach, ob man nicht mal in Hamburg-Dammtor anrufen könnte, um den Senior zu versorgen, der dort mit zwei Rädern, aber ohne Geld oder Handy herumstand. Und außerdem müsse ja nun irgendwie eine Lösung für die Dame her, entweder würde sie in Neumünster in den RE 7 zurück nach Hamburg steigen müssen oder einfach im Zug bleiben, der dank der großzügigen Verspätung in Kiel gleich wieder umkehrt und als Nacht-InterCity bis Basel SBB rumpelt.
Die Dame versprach sich darum zu kümmern.
Eine Viertelstunde verging und es passierte: Nichts. Also nichts außer dass die Seniorin am Ende ihrer Kräfte angekommen war und mittlerweile noch zwei weitere Fahrgäste damit befasst waren, dieses Problem irgendwie zu lösen, denn vom Zugpersonal ließ sich erstmal keiner blicken.
Dann kam eine andere, sehr freundliche und hilfsbereite Zugbegleiterin vorbei, die erstmal in Hamburg-Dammtor anrief, um nach dem Mann mit den beiden Rädern fahnden zu lassen. Der ließ sich erwartungsgemäß nicht mehr am Bahnsteig auffinden, also hat er wohl die Räder mit dem Aufzug ins Erdgeschoss verfrachtet. Vielleicht saß er bei McDonald’s, vielleicht hatte er die Räder abgeschlossen und die Polizei aufgesucht? Das ließ sich aus der Ferne nicht klären.
Aus der Ferne ebenfalls nicht klären ließ sich in Ermangelung eines ordentlichen Mobilfunknetzes, wie die Dame denn jetzt zurück nach Hamburg-Dammtor kommt. Nun bin ich ja nicht doof und rezitierte den Fahrplan des Regionalverkehrs, laut dem gegen 18:26 Uhr ein RE 7 von Kiel über Neumünster nach Hamburg fahren müsste, der ganz prima zu unserer verspäteten Ankunftszeit von 18:15 Uhr passe.
Es wurde aber nicht besser, denn die Dame sah sich außerstande, die drei Taschen allein zu tragen, denn der RE 7 fährt an einem anderen Bahnsteig ab. Also musste in Neumünster jemand vom DB Service anrücken und das notwendige Telefonat gestaltete sich im Land zwischen den Meeren Funklöchern ganz schön schwierig.
„Was ist denn mit der Fahrkarte?“, intervenierte ich, denn die befand sich nach meiner Kenntnis in Hamburg-Dammtor und wäre ohnehin nicht für den Umweg über Neumünster gültig gewesen. Die Antwort fand ich spannend: Im Regionalverkehr wäre ohnehin kein Schaffner unterwegs, da bräuchte sie keine neue Fahrkarte. Das war natürlich in jeglicher Hinsicht Käse, denn einerseits sind die grünen Züge im Regelfall wenigstens zwischen Neumünster un dHamburg so gut wie immer besetzt, andererseits bräuchte sie natürlich trotzdem irgendeine Fahrkarte. Ich drängte vergeblich auf eine handschriftliche Notiz mit Zangenabdruck auf einer dieser Reservierungskarten, die auf den letzten Metern bis Kiel ohnehin nicht mehr benötigt wurden, aber ich kam wohl nicht so richtig zu Wort.
Ankunft in Neumünster. Die Zugbegleiterin hilft beim Aussteigen, man kann ja nie wissen, und es ging auch schon nicht so richtig gut los, weil sich die Tür nicht öffnen ließ. „Tja, so kann sich immerhin niemand die Hand brechen“, klugscheißerte ich ungefragt, weil ich der Meinung war, mein vor Schmerzen pochendes Handgelenk müsste langsam auch mal ins Gespräch gebracht werden. Wir stiegen dann durch die Tür im nächsten Wagen aus und übergaben die Dame der Kollegin vom DB Service.

In diesem Moment stellte ich mit Blick auf die Fahrplanauskunft fest, dass der Regionalexpress aufgrund einer Streckenstörung nach Hamburg-Altona fahren wird, also nicht in Hamburg-Dammtor halten wird. Mein Kragen war wieder kurz vor dem Platzen, ich schnappte mir Brompti und meine Tasche und sprintete zurück zur Tür, um mit der Dame nach Hamburg zu fahren und irgendwie für eine Familienzusammenführung zu sorgen, weil mir das alles hier schon wieder viel zu sehr auf den Sack ging.
Aber: Die Tür piepte und schloss sich kurz darauf. Dieses Mal war ich schlauer und hielt mich zurück — nicht dass ich mir schon wieder fast den Arm breche, oder schlimmer noch, Brompti sich den Hals bricht.
Ich hoffe mal, dass die beiden sich irgendwie noch in Hamburg-Dammtor getroffen haben.
Und ich muss mich tatsächlich sehr zurückhalten, als Trostpflaster für die Prellung nicht noch das rote Fahrgastrechte-Formular einzureichen und für die eine Stunde Verspätung zehn Euro zu kassieren.
Noch netter als zehn Euro hätte ich allerdings ein kleines Dankeschön von der Bahn gefunden. Es muss ja nicht gleich ein Schokoriegel aus der Bordgastronomie oder ein Bericht in der nächsten Zeitung sein, aber vielleicht mal ein kleiner Dank, dass ich den beiden eigentlich beim Aussteigen helfen wollte, am Handgelenk verletzt wurde und noch eine gute Stunde lang die ältere Dame getröstet habe. Vielleicht irgendwas anderes außer „das Ziehen der Notbremse ist eine Straftat“ und „Sie müssen beim Aussteigen besser aufpassen“. Ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass mir so etwas passiert.
Naja.