Bei "Radwegen" wird gern der historische Kontext aus der Pressemeldung zur RStVO (Wikipedia) zitiert.
Mir fiel am letzten Wochenende ein Übungsheft zur Stenographie aus dem Jahre 1932(?) in die Hände.
Eine der Übungen behandelt einen Auszug aus dem "Kurzberichterstatter" zu Fernradwegen.
Könnte mit etwas anderer Wortwahl aber auch als aktuell durchgehen 
Vielen Dank für diese interessante Quelle! Beim Durchlesen stößt man auf ein bis heute ungelöstes Problem:
Am Ende des ersten Absatzes steht der Satz:
"Deutschland steht diesen Ländern gegenüber noch im gleichen Rückstande wie auf dem Gebiete der Kraftfahrzeuge."
Das wird bedauert und als Ziel wird eine Steigerung des Fahrrad-Bestandes UND eine Steigerung des Autobestandes eingefordert.
Das würde heute so keiner mehr formulieren. Einerseits deshalb: Inzwischen hat fast jeder ein Fahrrad in seinem Besitz. "Umweltschonend und gut für die Gesundheit – die Deutschen lieben das Fahrradfahren und der Wegfall von Freizeitmöglichkeiten durch die Corona-Einschränkungen verstärkte den Trend der letzten Jahre noch einmal. Im Jahr 2021 ist der Bestand an Fahrrädern in Deutschland mit rund 81 Millionen so hoch wie nie zuvor." Aus Fahrradbestand in Deutschland bis 2021
Andererseits:
Was den Autobesitz angeht, sehen die Produzenten (und viele Politiker) durchaus noch Luft nach oben, vermeiden es aber offensiv in diese Richtung zu werben.
Der KFZ-Bestand in Deutschland wächst immer noch kontinuierlich an. Aber anders als in den 20er und 30er Jahren würde das heute kein Politiker in den Mittelpunkt seiner politischen Forderungen stellen, möglichst viel dafür zu tun, dass noch mehr Menschen mit dem Auto mobil sein wollen. Oder besser gesagt. Die Methode, das zum Ausdruck zu bringen, hat sich geändert.
Vor rund 100 Jahren hieß es: "Baut mehr Straßen, damit mehr Menschen sich ein Auto kaufen."
Heute heißt es dagegen: "Die ideologischen Forderungen nach einem Rückbau der Verkehrsfläche für den Autoverkehr lehnen wir ab. Mit uns wird es keine Diskriminierung der Autofahrer geben."
Und wie verhält sich die Interessensvertretung der Fahrradfahrenden?
"Die gängige Praxis, Radwege ohne Berücksichtigung des tatsächlichen Breitenbedarfes in Bestandsbreite zu sanieren, blockiert die Verkehrswende in ländlichen Räumen. Bei Sanierungen von Radwegen an Landesstraßen soll es deshalb zu Regel werden, die Mindest- und Regelbreiten gemäß aktuellem Stadt der Technik umzusetzen. Privatinteressen und bürokratische Hürden dürfen nicht länger zu mangelhaften Radwegen führen."
Zitat aus HannoRad 2022/2 (=ADFC-Mitgliederzeitung in der Region Hannover)
Konkretisiert wird diese Forderung an einem Beispiel aus der Region Hannover, wo ein beliebter, aber zu schmaler gemeinsamer Zweirichtungen-Fuß- und Radweg einfach nur erneuert, jedoch nicht im vorschriftsmäßigen Umfang verbreitert wurde.
https://www.hannorad.de/wp-content/upl…noRad2022-2.pdf siehe Seite 13
Man könnte jetzt polemisch formulieren: Wie der Autor des Textes von 1932 fordert der ADFC auch heute noch eigene Wege für das Fahrradfahren. Aber das würde die Sache nicht treffen.
Der Unterschied ist:
1932 ging es darum, möglichst viele Autos auf die Straße zu bringen. Die freie Fahrt für diese Autos sollte nicht durch Fahrradfahrer beeinträchtigt werden.
Heute geht es darum, dass die vielen Autos, die man sich einst herbeiwünschte und noch sehr viel mehr, als man sich das damals denken konnte, den Verkehrsraum so stark dominieren, dass viele Fahrradfahrer*innen nach eigenen Verkehrswegen für das Fahrradfahren verlangen, weil sie nicht bereit sind für eine Mischnutzung der vorhandenen Fahrbahnen, die vom Autoverkehr dominiert werden.
Es ist schlimm, dass dem ADFC oft nichts anderes übrig bleibt als die Forderung, zusätzliche Flächen zu betonieren. Straßen, die eigentlich breit genug wären für eine Mischnutzung von Rad und Auto bei einem niedrigen Tempolimit, müssen weiterhin für das Fahrradfahren offengehalten werden. Und zwar nicht nur nominell, denn es ist ja nicht verboten, mit dem Fahrrad auf einer Landstraße mit hohem Auto-Verkehrsaufkommen zu fahren. Auch dann nicht, wenn dort Tempo 100 gilt, weil kein niedrigeres Tempolimit angeordnet ist. Aber viele Radfahrerinnen und Radfahrer sehen darin keine Option und verzichten deshalb auf das Radfahren unter solchen Bedingungen. Und da die Autolobby dermaßen massiv dagegen mauert, dass der Autoverkehr durch geeignete Maßnahmen verlangsamt wird und die Ausbreitung des Autoverkehrs weiter ungebremst zugelassen wird, bleibt ein Radwegebau mit ausreichenden Abmessungen oft die einzige Möglichkeit, um eine Verbindung von A nach B für möglichst viele Menschen für das Radfahren zu erhalten.
Und es muss dem ADFC nicht nur um die Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer gehen, die bereits mit dem Fahrrad mobil sind. Und auch nicht nur um die Fahrradfahrer*innen, die nicht oder nur im leider weit verbreiteten Notfall auch auf Landstraßen fahren, wenn dort Tempo 100 gilt.
Vielmehr sehe ich die Aufgabe des ADFC darin, das Fahrradfahren für Alle attraktiver und sicherer zu machen. Leider sieht es so aus, dass unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen nur wenig Spielraum besteht, das Fahrradfahren voranzubringen und im Gegenzug den Autoverkehr zurückzudrängen, wie es eigentlich sein müsste.