Oh je, ich hatte befürchtet, dass es jetzt wieder mit einer solchen Diskussion losgeht 
Momentan bin ich seit anderthalb Wochen im entlegenen Niedersachsen unterwegs, jetzt gerade bei den Schwiegereltern im entlegenen Hankensbüttel. Radfahren ist hier in der niedersächsischen Provinz eigentlich nur etwas für Schüler oder für eine Radtour am Wochenende und auch da kommt man nur in eine überschaubare Anzahl von Himmelsrichtungen weg, nämlich nur entlang der Überlandstraßen mit einem straßenbegleitenden Radweg. Das heißt, man kurbelt entweder irgendwelche Feldwege entlang oder fährt nach Süden Richtung Gifhorn oder nach Osten Richtung Wittengen. Neuerdings geht es auch über einen neuen Radweg Richtung Südwesten in einen Flecken mit dem schönen Namen Wunderbüttel.
Die übrigen Straßen sind häufig als mehr oder weniger prächtige Allee ausgebildet und damit, wenn ich das jetzt mal so flapsig formulieren darf, hier auf dem Dorf die Leute nach dem Schützenfest nicht vorzeitig wegsterben, wurden viele der Alleen mit Schutzplanken ausgerüstet. Das führt natürlich am Lenkrad zu einer gewissen Sorglosigkeit, denn dann kann ja offenbar nichts mehr passieren, was dann wiederum in einer ungesund hohen Geschwindigkeit resultiert. Wenn ich hier bei anderen Leuten im Auto sitze, stehen auf solchen Straßen selten weniger als 120 Sachen auf dem Tacho, da gehen auch locker 150. Als ich vor einiger Zeit die Landesstraße 310 von Mellendorf nach Celle entlangfahrbahnradelte, haben mir sicherlich 25 oder 30 Kraftfahrer zu verstehen gegeben, dass sie meine Anwesenheit nicht schätzen.
Das ist zum Radfahren auch für uns Hartgesottene nicht unbedingt schön. Der Überholabstand haut hier auch nicht so ganz hin — die einzigen, die tatsächlich zum Überholen einen Spurwechsel mit allem drum und dran vollziehen, sind Lastkraftwagenfahrer. Abgesehen von einem einzigen, der mir erstmal auf ungefähr fünf Meter auffahren musste, um dann das Horn zu zünden, sind die hier ausgesprochen vorbildlich. Das kann man vom Rest der motorisierten Verkehrsteilnehmer aber nicht behaupten.
Insofern: Was tun? Überall einen Radweg ranklemmen, innerorts wie außerorts? Das wird nicht klappen, weder finanziell noch zeitlich noch vom Platz und so weiter und so fort. Abgesehen davon, dass der Nutzen solcher Maßnahmen nicht so ganz eindeutig ist, wie wir ja alle mittlerweile wissen.
Das Problem scheint mir außerhalb der großen Städte vor allem zu sein, dass man ohne Auto auf dem Dorf echt aufgeschmissen ist.
Hankensbüttel liegt an der Lachtetalbahn von Wittingen nach Celle und hatte früher einmal ein recht ansehnliches Bahnhofsareal mit einem entsprechend umfangreichen Betrieb. Seit nunmehr 45 Jahren findet hier allerdings kein Personenverkehr mehr statt, der Güterverkehr wurde von der OHE vor einigen Jahren ebenfalls eingestellt, die ganze Strecke wird vermutlich in den nächsten Jahren stillgelegt. Gleis raus, Supermarkt rauf.
Ebenjener Supermarkt ist vermutlich ebenfalls das Problem: Lebensmittel gibt es nur noch auf Supermärkten auf der so genannten grünen Wiese, die sich grundsätzlich in jedem Unterzentrum befinden. In den Straßen, die mal so etwas wie die Hauptstraße Hankensbüttels oder Wittingens waren, ist grundsätzlich alles tot. Der Schlachter, der das Vieh noch selbst beim Landwirt abholte und im Nebengebäude schlachtete, ist genauso fort wie der Obst- und Gemüsehandel, der Getränkemarkt oder die Bäckerei: Alle gingen relativ schnell pleite, nachdem die praktischen Supermärkte auf der grünen Wiese öffneten.
Was ich in den Supermärkten nicht finde, finde ich aber im Elektronikfachmarkt im nächsten Oberzentrum. Dahin komme ich aber grundsätzlich nur mit dem Auto. Es gibt hier zwar einen Busverkehr, der sogar relativ häufig fährt, aber quasi nur von einem Dorf ins nächste. Ich komme zwar regelmäßig aus Hankensbüttel zum Wittinger Bahnhof und von dort aus mit dem Zug nach Uelzen oder Braunschweig, aber in alle anderen Richtungen quasi nur ein Dorf weiter. Nach Celle oder Lachendorf geht’s nur über einen riesigen Umweg über Uelzen oder Braunschweig und Hannover. Das macht natürlich kein normaler Mensch (unnormale Menschen wie ich sind mit dem Rad übrigens schneller in Celle als mit öffentlichen Verkehrsmitteln).
Mit dem Auto fährt man aber nicht nur zum Einkaufen ins nächste Oberzentrum, sondern auch zur Arbeit. Aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis, in den ich mich hier eingeheiratet habe, erfuhr ich, dass man gar nicht mal unbedingt in der IT-Branche arbeiten muss, um alle paar Jahre seinen Arbeitsplatz zu wechseln. Während man aber als Arbeitnehmer in der Großstadt gute Chancen hat, beim nächsten Arbeitsplatz noch immer in der Großstadt bleiben zu können, bewegt man sich hier mit dem Auto in einem Umkreis von 50 oder gar 100 Kilometern. Hat man bei einem Elektroinstallateur in Uelzen gekündigt, befindet sich der nächste Arbeitgeber vielleicht in Salzwedel oder in Salzgitter, aber sicherlich nicht in Hankensbüttel.
Gut, zurück zur eigentlichen Ausgangsfrage hinsichtlich Radweg oder Fahrbahn und weniger Kraftverkehr.
Ich meine, dass beispielsweise hier auf dem Land unendlich viele Faktoren die Frage nach der Verkehrswende beeinflussen und die Gegenwart von Radwegen nur ein Teil davon ist.
Ich würde beispielsweise bestimmt nicht meinen täglichen Arbeitsweg nach Wittingen mit dem Rad bestreiten, wenn ich dort auf der mit Schutzplanken ausgestatteten Hochgeschwindigkeitsfahrbahn radeln müsste. Den Stress tue ich mir nicht an. Also muss entweder ein straßenbegleitender Radweg her oder ich fahre über die Felder, wo Regen und Schnee in Matsch resultieren.
Andere Möglichkeit: Die Leute überzeugen, dass Tempo 120 oder — Gott behüte — 150 auf einer einfachen Überlandstraße trotz Schutzplanken eine dumme Idee sind. Nur: Wie? Mit Einsicht oder Kontrollen hat’s ja in den letzten Jahrzehnten nicht so richtig funktioniert und mir fehlt trotz des neuen Bußgeldkataloges der Glaube, dass sich das künftig ändern mag.
Also den Stress am Lenkrad bekämpfen? Dafür sorgen, dass nicht jeder bis zu hundert Kilometer zu seinem Arbeitsplatz pendeln muss? Als Software-Entwickler ist die Sache mit Teleheimarbeit bestimmt eine leichte Sache, für viele andere Berufe vermutlich ebenfalls möglich — aber es scheitert vermutlich momentan noch an der Internetanbindung hier auf dem Land. Wenn der Nachbar Netflix anschmeißt, kann ich hier quasi nicht mal mehr ein Foto hochladen.
Ich habe das Gefühl, wenn man weniger Kraftverkehr haben möchte, dann müsste man eine ganze Menge gesellschaftlicher Entwicklungen zurückdrehen. Zum Beispiel die Sache mit dem häufigen Wechsel des Arbeitsplatzes und der Bereitschaft zum Pendeln, die nunmal für diese Menschen längere Fahrten mit dem Auto bedeutet. Aber so etwas wie 75 Jahre lang bis zum Tod in der Fleischerei auf dem Dorf zu arbeiten wie eine Tante meines Vaters, das wird es heute wohl nicht mehr geben, denn es gibt ja nicht einmal mehr die Fleischerei, weil die in keiner Hinsicht gegen das Angebot eines Supermarktes bestehen kann.
Wollen wir weniger Autofahrten generieren, müsste es mehr Angebote des täglichen und wöchentlichen Bedarfs in jedem Unterzentrum geben. Nur: Das lohnt sich einfach nicht mehr. Es gab hier im Ort beispielsweise bis vor ein paar Monaten einen „Fernsehermann“: Geschäftsaufgabe wegen Renteneintritt. Der konnte aber auch nur noch Fernseher reparieren, die so alt waren wie er selbst, denn an einem Flachbildschirm, wie man ihn heute aus MediaMarkt herausträgt oder bei Amazon bestellt, lässt sich ja nichts mehr reparieren. Brauche ich jetzt ein elektronisches Gerät, fahre ich entweder bis zum nächsten Oberzentrum oder bestelle im Internet. Wenn es kaputt geht, bestelle ich einfach ein neues.
Will sagen: Man muss für jeden Scheiß ins Auto steigen und aus dem Dorf raus, meistens nicht bis zum nächsten Mittelzentrum, sondern gleich ins nächste Oberzentrum. Und das wird sich ja nicht zurückdrehen lassen. Die ganzen kleinen Betriebe, die Fleischerei, die Post, die Bäckerei, die können sich ja teilweise nicht mal in hippen Vierteln einer Großstadt gegenüber dem Supermarkt behaupten, wie soll das hier auf dem Land mit noch kleinerer Zielgruppe funktionieren?
Und dann gibt es ja noch die angesprochene Bahnstrecke von Wittingen nach Celle. Ich fände es obercool, wenn dort mal wieder eine Regionalbahn führe, womöglich sogar direkt weiter nach Hannover. Das löst aber keines der übrigen Probleme: Ich kann dann zwar auf dem Dorf wohnen und in Hannover arbeiten und täglich meine drei Stunden im Zug absitzen, quasi immerhin für zwei Wege am Tag one less car, fahre dann aber für alle anderen Wege trotzdem mit dem Auto herum.
Und irgendwie habe ich mich mit diesem Beitrag total verrannt zu dieser späten Stunde. Ich wollte eigentlich darauf hinaus, dass es viel mehr Aspekte für die Verkehrswende, beziehungsweise weniger Kraftverkehr auf der Straße gibt als nur die Frage nach Fahrbahn und Radweg, aber ich bin mir nicht sicher, ob mir das hier gelungen ist.
Übrigens gab es hier im Dorf sogar mal einen Fahrradladen. Der hat aber auch nach ein paar Jahrzehnten vorletztes Jahr endgültig schließen müssen: Es lohnte sich nicht mehr. Das hat hinsichtlich der Verkehrswende auch wieder Auswirkungen: So ein normales Fahrrad, was schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat und vielleicht nicht immer pünktlich zur Inspektion erscheint und vielleicht nicht immer so gut gepflegt wird, das neigt dann auch mal zu Mätzchen. Wenn wir hier einen Ausflug machen wollen, finden wir zwar ein reichhaltiges Angebot an Rädern in der Nachbarschaft vor, aber keines, bei dem sowohl Bremse als auch Licht als auch Schaltung funktionieren, die Kette noch einigermaßen in Schuss ist und die Reifen aufgepumpt. Irgendwas ist immer. Weil man aber das defekte Rad erstmal auf einem Fahrradträger am Auto ins nächste Mittelzentrum zur Werkstatt fahren müsste, bleibt die Lage wie sie ist.
Und am Ende fährt man so oder so mit dem Auto.