Gedenken an #Natenom, der vor einigen Tagen bei einem Verkehrsunfall in der Nähe von Pforzheim ums Leben kam. Man bezeichnet ihn wohl als Fahrradaktivisten, obwohl ich glaube, dass er sich selbst nicht so genannt hätte. Vielleicht war er eher ein engagiertes Mitglied unserer Gesellschaft, zeigte Probleme im Straßenverkehr auf und arbeitete offenbar auch hartnäckig daran, in Politik und Verwaltung ebenjene Probleme und Gefahrenstellen abzustellen.
Wie ich heute erfuhr, waren wir uns sogar ein bisschen ähnlich: Er sorgte bei jeder #CriticalMass für Fotos, filmte, war immer und überall unterwegs und wusste über alles Bescheid (na gut, ich weiß vermutlich nicht ansatzweise so viel wie er). Das gefiel natürlich nicht jedem, denn wer Natenom mit einem Kraftfahrzeug begegnete, musste sehr schnell lernen, wie groß der Abstand zum Überholen eines Fahrrades tatsächlich ist und dass längst nicht alles, was durch die Windschutzscheibe nach einem Radweg aussieht, auch tatsächlich mit dem Rad befahren werden muss. Vielleicht nannten ihn andere Menschen gar nicht Fahrradaktivist, sondern eher Querulant.
Wie unangenehm das Radfahren in der Gegend von Pforzheim ist, erfuhr ich im Dezember 2019, als ich mit dem Faltrad von Stuttgart nach Karlsruhe kurbelte und in der Dunkelheit des Nordschwarzwaldes die kurvigen Straßen entlangrollte, die auch Natenom täglich befuhr. Und ich hatte schon den Eindruck, ja, hier waren die Leute und ihre Autos sehr genervt, wenn jemand mit dem Fahrrad vor Ihnen auf der Straße unterwegs war. Tatsächlich wurde ich auch unzählige Male eng überholt, zwei Mal angehupt und einmal wäre mir beinahe ein Kraftfahrer mit seinem SUV hinten reingefahren; da hatte beim Bremsen schon ordentlich das ABS gepumpt. Insofern glaube ich Natenom, dass seine Berichte keineswegs übertrieben waren.
549 Menschen und viele Plüsch-Elefanten zählte ich bei der Abfahrt aus Pforzheim, von wo aus es überraschend steile Hügel hinaufging. In Norddeutschland hatten wir bei der letzten Eiszeit einige Gletscher, die uns eine überaschaubare Anzahl Höhenmeter für eine angenehme Radverkehrsinfrastruktur zurückließen. Vielleicht wäre das ja auch eine Option für Süddeutschland, wenn der Golfstrom in den nächsten Jahrzehnten versiegt.
Obwohl unsere Fahrt von der Polizei begleitet und gesichert wurde, oblag es den Ordner*innen, an kleinen Nebenstraßen den motorisierten Verkehr aufzuhalten. Und der machte auch recht deutlich, was er von einer Fahrraddemonstration hielt und illustrierte auf traurige Art, was das Problem ist, gegen das Natenom Zeit seines Lebens ankämpfte.
Wie es die Tradition verlangt, wurde ich aus dem Autofenster homophob beleidigt, ich kleine Schwuchtel solle mal arbeiten gehen, das Bürgergeld wäre zu hoch, wir Scheiß-Radfahrer gehörten ins Gas. Gas? Nee, der Herr am Lenkrad meine natürlich nicht Auschwitz, sondern nur — Brumm, Brumm! — die Abgase aus seinem Töfftöff. Ist klar. Achso, der Typ fährt natürlich auch selbst Fahrrad, aber natürlich nur auf den Radwegen und wenn es keine gibt, keine Radwege, dann steigt er ab und schiebt.
Das ist insofern lustig, als dass es in Pforzheim und Umgebung nach meiner Kenntnis tatsächlich nur eine sehr überschaubare Anzahl an Radwegen gibt. Viel wird er wohl nicht fahren — oder aber sehr viel schieben, was dann aber in Ermangelung eines Gehweges auch wieder auf der Fahrbahn stattfindet. Da könnte er auch gleich radeln.
Aber das sind nunmal die Sachen, die man sich heutzutage an den Kopf wirft. Das absolut normalste der Welt. Nachdem es während der Fahrt offenbar mehrere Schlägereien zwischen Kraftfahrer*innen und Demonstrationsteilnehmer*innen gegeben hatte, bat die Versammmlungsleitung darum, dass Betroffene sich später bei der Polizei melden mögen.
Und da wundere ich mich schon, in welch einer Gesellschaft wir mittlerweile überhaupt angekommen sind. Politik und Behörden scheiterten daran, eine sichere Radverkehrsinfrastruktur zu schaffen, die Polizei mochte Natenoms Beschwerden nicht mehr hören, nun ist er tot und die Polizei schafft es auch mit zwei Dutzend Einsatzkräften nicht, einen Demonstrationszug soweit zu schützen, dass man als einfache*r Teilnehmer*in nicht Gefahr läuft, von wütenden Menschen verprügelt zu werden? Das ist doch an Absurdität kaum noch zu überbieten.
Kurz vor der eigentlichen Unfallstelle zwickte leider der Terminkalender und ich bog zum nächsten Bahnhof ab. Wäre meine Bahn nicht ohnehin ausgefallen, hätte ich mich vielleicht noch ein bisschen beruhigen können.