So ganz erfolgreich war die Sache heute ja nicht: Eigentlich sollte es um 8.15 Uhr in Wedel losgehen, aufgrund technischer Probleme ließen sich unsere beiden Drahtesel aber erst gegen 9 Uhr in Bewegung setzen. Es bestand die Wahl zwischen der Fahrt von 12.45 Uhr vom Eidelstedter Platz, bei der wohl relativ lustlos zweieinhalb Stunden lang Richtung Jungfernstieg getrödelt wird, oder mit der S-Bahn noch schnell über die Elbe zu hüpfen und in Wilhelmsburg oder Harburg einzusteigen.
Wir entschieden uns für die S-Bahn, die schon gut mit mehreren Fahrrädern bestückt in der Elbgaustraße einfuhr. Als wir in Harburg ankamen, hatten sich zehn (!) Fahrräder in unserem Türraum angesammelt: Sechs direkt im Türraum, zwei rechts im Gang, zwei links im Gang. Bloß gut, dass nicht so viele Fahrgäste ohne Fahrrad dabei waren. Zwischendurch sah es mal so aus:

Immerhin ging das total gesittet ab, vollkommen unterschiedlich zu dem üblichen Gerangel im RE 70 nach Kiel. Keiner pöbelte herum, keiner warf sein Rad durch die Gegend, alles supercool und ohne Kratzer im Lack.
Zwischen Wilhelmsburg und Harburg sahen wir dann schon ein paar Teilnehmer der Sternfahrt. ADFC Dormagen on Tour. Vier Fünftel der Radlinge mit Warnweste. Ernsthaft. Ich war mir nicht sicher, ob es sich hier nicht doch um irgendeine Zubringer-Tour handelt oder ob hier wirklich jeder fast jeder eine Warnweste trägt.
Na gut, in Harburg steigen ungelogen knapp hundert Radlinge aus der S-Bahn, die rechnerisch nur 34 Fahrräder fasst (Sechs Wagen mit drei Türen mit je zwei Fahrrädern minus dem verbotenen Türraum ganz vorne).
Los geht’s. Die Rennleitung sperrt die Kreuzung ab, weil die Sternfahrt bereits rollt, und wir zögern ein bisschen über die rote Ampel zu fahren, obwohl ja eh alles gesperrt ist. Gleich danach fällt mir auf, dass zwar die Kreuzung gesperrt war, aber nicht die Ein- und Zufahrten drumherum — und da corkte auch niemand. Und so vergingen gerade mal 47 Sekunden, bis mich der erste beinahe angefahren hatte:

Zusammen mit einem anderen Radling führte ich den Typen aus der Demonstration heraus, die wir nunmal waren. Und was war der auch gleich sauer! „ICH MUSS ZUR ARBEIT IHR ARSCHLÖCHER“, „IHR SEID KEINE DEMO, WO IST DIE POLIZEI???“, „IHR HABT NUR EINE SPUR“, uuuuuuuuuuund: „IHR FAHRT NICHT AUF DEM RADWEG.“

Kann ich nicht einmal im Leben, once in a lifetime, an einen normalen Autofahrer geraten? Dass sich die Rennleitung nur um die allerallergrößten Kreuzungen kümmert und die restlichen Querungsstellen der Geduld der Kraftfahrer überlässt ist ja durchaus ein berechtigter Kritikpunkt, der wohl insgesamt auf die personelle Situation zurückzuführen ist. Aber warum kann dann nicht mal ein Kraftfahrer in der Demonstration mitfahren, der tatsächlich nur zur Arbeit muss und die Lage aufgrund der großen Lücken im Teilnehmerfeld falsch eingeschätzt hat? Dieses ganze dumme Geblöcke geht mir echt auf die Nerven — und ich merke, dass es mir zunehmend schwerer fällt, freundlich darauf zu reagieren.
Immerhin ist der Typ dann doch noch an der nächsten Kreuzung abgefahren. Hätte mir ja noch gefehlt, dass der mich gleich nach nicht mal zwei Minuten überfährt.
So. Und was hatte es nun mit diesen vielen Warnwesten auf sich?

Okay, insgesamt sind das nicht mal mehr ein Fünftel der Teilnehmer, die eine Warnweste tragen, wobei bei ziemlich vielen Radlingen die Warnweste noch verpackt im Fahrradkorb transportiert wurde. Es stellte sich heraus, dass die Warnwesten von dieser schon-gecheckt-Kampagne an einigen Startpunkten verteilt worden sind — angeblich sogar mit der Bitte, sie während der Demonstration zu tragen.
Nun denke ich mir immer noch: Es sind nur Warnwesten, kein Grund sich jetzt künstlich zu empören. Trotzdem: Was soll denn die Botschaft dieser Demonstration sein, wenn ein deutlicher Teil der Demonstranten eine Warnweste trägt? Soll das die Teilnehmer als zur Demonstration zugehörig kennzeichnen? Oder ist die Teilnahme an der Demonstration so gefährlich, dass man sich mit einer Warnweste „schützen“ muss? In den Forderungen der Demonstration taucht dazu nichts auf — aber ich finde es schon ziemlich interessant, auf einer Fahrrad-Demonstration Warnwesten zu verteilen, weil das Radfahren in Hamburg offenbar so ultramegagefährlich ist. Interessant ist auch, dass schon-gecheckt inklusive der Warnwesten nicht nur eine Art Partner der Sternfahrt ist, sondern offenbar auch vom ADFC Hamburg unterhalten wird.
So bleibt dann doch etwas Verwunderung.

Weiter geht’s durch Moorburg zur Köhlbrandbrücke. Wieder sperrt die Polizei nur vereinzelt Kreuzungen ab, mal hier, mal da, aber die Kraftfahrer warten größtenteils artig. In Moorburg haben einige Kraftfahrer so nett links und rechts der Fahrbahn geparkt, dass es sich etwas staute — vielleicht will man keine Radfahrer in diesem Dorf, das vermutlich eh keine große Zukunft mehr hat. Vielleicht war es auch einfach Zufall, dass die Wagen so parkten. So wie im letzten Jahr. Und im vorletzten Jahr.
Ich weiß nicht, ob es an der strafferen Organisation lag oder an unserer weit abgeschlagenen Position im Teilnehmerfeld, aber wir kamen ohne nennenswerte Wartezeiten durch. Keine zehn Minuten vor der Köhlbrandbrücke, etwa eine Viertelstunde in Veddel, da kann man nicht meckern, obwohl ich ja eigentlich gerne den Grill aufstellen wollte.

Ziemlich nervig waren hingegen die aberhunderten Hobbyfotografen oben auf der Brücke. Ich erinnere mich ja noch an die vorigen Sternfahrten, bei denen ich teilweise auch für den ADFC fotografiert hatte und trotzdem nicht kurz auf der Brücke anhalten durfte, dieses Mal hat das aber offenbar niemanden gestört. Stattdessen ging es dort oben zu wie im Parksuchverkehr auf dem Wiesendamm: Einer fährt von rechts oder links los, der nächste parkt dort ein, in der Mitte fließt der Verkehr ein bisschen besser. Naja, gibt schlimmeres.

Ziemlich cool: Bergab herrschte Stau. Ernsthaft: Fand ich wirklich cool. In den letzten Jahren ging’s dort mit Karacho die Ebene herunter und ich habe jedes Mal gestaunt, wie wohl solche Teilnehmer, die eventuell nur drei oder vier Mal im Jahr auf dem Rad sitzen, ihr Fahrrad von 60 Kilometern pro Stunde wieder abbremsen können, beziehungsweise überhaupt bei einem solchen Tempo die Kontrolle über ihr Fahrzeug behalten. Und ich weiß nicht, ob es Absicht oder Zufall war, aber diesen Geschwindigkeitsexzessen wurde dieses Mal vorgebeugt:

In Veddel war dann wieder eine mehr oder weniger lange Pause, dann ging’s weiter auf die Autobahn und ich bekam gleich wieder einen Rappel: Niemand sperrte die Autobahn ab. Klar, die Polizei hat den Verkehr ausgebremst und den vorderen Fahrzeugführern sicherlich erklärt, dass sie jetzt erstmal nicht fahren werden, aber dennoch überzeugt mich das nicht so richtig. Dann kommt da wieder ein Ungeduldiger daher und drängelt sich rechts oder links vorbei und schon ist wieder Malheur — das hatte ich in den vergangenen Jahren ja oft genug erlebt:

Malheur war dann auch gleich ein paar hundert Meter später: Eine Radfahrerin hatte es ordentlich auf den Asphalt gehauen, offenbar mit Feindberührung eines zweiten Radlers, so dass eine Platzwunde und offenbar auch eine Gehirnerschütterung zu versorgen war. Gut, der Rettungsdienst war am Telefon recht unbekümmert, man würde irgendwie hinter der Sternfahrt einfahren und wäre gleich da, super, nur taten sich im Teilnehmerfeld, in dessen hinteren Bereich wir uns mittlerweile befanden, immer größere Lücken auf. Es war also nur noch eine Frage der Zeit, bis die Autos auf der Autobahn wieder losführen und wir im Extremfall verständnisvolle Kraftfahrer bei Tempo 120 einfangen müssten.
Zum Glück rückte dann doch irgendwann die Rennleitung an und nahm sich der Verletzten an:

Weiter geht’s, rein in die Stadt, zack, fast gleich wieder bei einem Sportwagen auf der Motorhaube gelandet. Der wollte nämlich abbiegen, weil seine Ampel grünes Licht zeigte und wir… ja, wir… äh… naja, Radfahrer!!! Braucht es da noch weitere Worte??????????
Schade, dass ich zu feige bin, solche Fotos unverpixelt zu zeigen, denn der Typ springt quasi sofort aus seiner Karre und brüllt mit wutverzerrtem Gesicht herum, das ist echt sehenswert:

Auch da gibt’s die üblichen Probleme: Wo sind die „scheiß Bull’n?“, „Ihr Radfahrer fahrt doch auch immer über rot!!!“ und „Ich hab’s eilig!“ Dazu gab’s dann noch ein bisschen rassistische Kackscheiße, weil der Radfahrer in dem weißem Oberteil offenkundig kein Arier war, der Sportwagen-Fahrer aber eine reinrassige Linie bis zu Zeiten des Kaisers vorweisen kann. Er pöbelte noch eine Weile herum, macht immer wieder Anstalten, einen von uns gegen die Beine zu fahren. Wir versprechen ihm regelmäßig, dass gleich die Polizei käme und er all seine Probleme mit den Verkehrsregeln, dem Versammlungsrecht und seinem Arier-Nachweis mit der Rennleitung bequatschen könne, aber als dann die Rennleitung tatsächlich mit Blaulicht am Horizont auftauchte und das Ende der Demonstration vor sich herschob, entschied sich der Typ aber dafür, nicht mehr die letzten dreißig Sekunden in seiner Karre auszuhalten, sondern trag lieber die Flucht Richtung Autobahn an:

Ich glaube ja schon, dass er tatsächlich Schiss hatte, mindestens für seine rassistischen Bemerkungen ordentlich Ärger zu bekommen. Seinen Job übernahmen dann aber gleich eine Reihe weiterer Kraftfahrer, die sich hupend und gestikulierend mit einem Motorradradfahrer der Rennleitung anlegten:

Ich find’s ja immer wieder interessant, dass am Lenkrad nicht nur der Respekt vor dem Leben anderer Verkehrsteilnehmer vollkommen verschwindet („Ist ja nur ein Radfahrer und ich habe erst vor drei Tagen einen Radfahrer gesehen, der über eine rote Ampel gefahren ist“), sondern man sogar die Polizei anhupt, weil man es so eilig hat.
Weiß nicht.
War aber insgesamt dennoch eine schöne Tour, auch wenn ich diese Warnwesten-Geschichte für etwas unnötig halte. Ich glaube zwar nicht, dass es außerhalb unseres Kreises der berufsempörten Radfahrer überhaupt auffallen wird, aber damit kommuniziert man doch, dass Radfahren total gefährlich ist und man mindestens Warnweste und Helm tragen sollte. Ich glaube nicht, dass das mit den eigentlichen Zielen der Sternfahrt konform geht.
Wobei: Vielleicht hätte eine Warnweste meine Freundin davor bewahrt, beinahe angefahren zu werden. Am Wördemannsweg dachte sich ein Kraftfahrer wohl, dass die Wahrscheinlichkeit, dass nach dem einen Radfahrer, den er schon auf dem Radweg durchlassen musste, noch ein zweiter käme, ziemlich gering wäre, und fuhr mal auf gut Glück los, so dass ich wiederum eine Vollbremsung auf dem Radweg hinlegte, um ihm im Weg zu stehen. Er regte sich dann kraftfahrertypisch auf, dass er jetzt wieder warten musste, aber immerhin brachte ich die Herzdame heil nach Hause.
Kann man sich echt nicht ausdenken.