Content Notice: Gewalt, Homophobie, Messer, Vergewaltigung
Nun hab ich’s auch geschafft, mit einem Messer bedroht zu werden.
Okay, das ist so eine erste Zeile im LinkedIn-Stil, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Los ging’s gestern morgen in Lüneburg mit dem Metronom nach Hamburg. Wir hatten versäumt, vor Fahrtantritt den Kalender der Fußballspiele zu überprüfen und so standen wir einem bereits recht gut gefüllten Zug voller Magdeburger Fußballfans auf dem Weg nach Kiel gegenüber, die schon seit kurz vor sechs Uhr unterwegs waren und offenkundig mächtig getankt hatten. Mit Fahrrädern hatten wir keine andere Wahl als uns im Fahrradwagen niederzulassen, wo bereits ausgelassene Stimmung herrschte.
In der folgenden halben Stunde wurde das übliche Programm abgespult: Es wurde exzessiv dem Alkohol zugesprochen, geraucht und anschließend in die Ecke gepinkelt, dazu laute Musik abgespielt und gegrölt und hin und wieder mal ein Hitlergruß gezeigt. Die dutzenden Aufkleber, die anschließend Fenster, Sitzlehnen und die Decke zierten, waren da noch das kleinste Problem. Das ist, wie man so schön sagt, an Fußball-Wochenenden in der Bahn die neue Normalität.
Interessant war bei dieser Fahrt, dass drei Kinder anwesend waren und ebenfalls Magdeburger Farben trugen. Und diese Kinder, zwei junge Mädchen und ein etwas älterer Junge, durften auch mal die Wodka-Flaschen halten, wenigstens der Junge nahm auch schon mal einen Schluck oder tat wenigstens so. Das führte dann zu skurrilen Situationen, dass die erwachsenen Frauen und Männer das übliche Liedgut anstimmten, zu denen auch frauenverachtende Texte zählten, die Frauen nicht nur am Herd, sondern primär draußen an der Laterne verorteten. Bloß gut, dass die beiden jungen Mädchen sicherlich nicht verstanden, was Papa dort eigentlich meint, wenn er grölt, er werde die Kieler Frauen so richtig in alle Körperöffnungen „ficken“ und anschließend „wie ein Stück Dreck“ behandeln.
Nachdem man sich eine Weile den Kieler Frauen gewidmet hatte, waren nun „die Ausländer“ dran, aber diese Texte muss ich hier nun wirklich nicht reproduzieren. Ihr kennt den Kram ohnehin, wenn ihr mal an solchen Wochenenden unterwegs gewesen seid.
Dritter Akt: Homophobe Scheiße. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich nicht meine Fahrradkleidung trug, denn die lange Fahrradhose gleicht dem betrunkenen Fußballhirn zu sehr einer Strumpfhose, so dass man mir in der Vergangenheit mehrfach freundliche Angebote zum Oralverkehr unterbreitete oder auch schon mal tätlich wurde. Abgesehen davon ist das absolut widerlich-komisch: Man besingt St. Pauli als homosexuell, korrigiert dann das Liedgut auf Holstein Kiel, was sich zwar nicht mehr so gut reimt, aber immerhin zum heutigen Spiel passt, ist aber selbst so unglaublich touchy, denn die besoffenen Fans fassen sich gegenseitig ständig an und schlabbern sich mit der Zunge am Ohr oder was auch immer. Es fällt mir schwer, das alles einzuordnen.
Okay, wo war nun eigentlich das Zugpersonal? Wie so oft: Nicht da. Es gab auch nicht mal die obligatorischen Durchsagen zum Alkohol- und Rauchverbot in der Bahn, abgesehen davon, dass das die Leute vermutlich auch nicht gestört hätte. Was sollen denn zwei oder drei Zugbegleiter, womöglich noch Zugbegleiterinnen, denn auch gegen mehrere hundert stark betrunkener Magdeburg-Fans ausrichten? Die Bundespolizei kommen lassen, um die Sache so richtig eskalieren zu lassen? Damit die Fans mit dem Nothammer die Scheiben einschlagen und draußen im Gleis herumlaufen?
Die Leute beim Metronom sind wohl auch froh, wenn sie ihre vertraglich vereinbarten Verkehrsleistungen erbringen können, das Rollmaterial so einigermaßen im rollbaren Zustand bleibt und das Zugpersonal nicht in eine Schlägerei verwickelt wird.
Als ich mal vor einigen Jahren in Schleswig-Holstein von angetrunkenen Fußballfans belästigt wurde, empfahl mir das Zugpersonal folgerichtig: Wenn ich nicht möchte, dass mich betrunkene Fans homophob belästigen oder mir gar eine Backpfeife verpassen, dann dürfe ich halt nicht am Wochenende mit der Bahn fahren. Insofern halte ich ja auch die tollen Aufrufe wie „#respektvollreisen“ oder „Bleibt friedlich, dann fahren wir euch gern“ für schönen Feelgood-Aktionismus, den man als Pressemitteilung verschicken kann, der leider nicht funktioniert, solange man die Leute nicht knallhart vor die Tür setzt.
Ankunft in Hamburg. Wir warten einen Moment, bis sich die lieben Fußballfans die Treppe hochgeschlichen haben und machen uns dann ebenfalls auf den Weg.
Dann passiert, was natürlich passieren muss: Einer der Fans zieht am Hinterrad meines Fahrrades, so dass ich beinahe nach hinten die Treppe herunterfalle. Natürlich stürze ich nicht, haha, als Vielfahrer, der häufig das Rad mitschleppt, bin ich solche Späße ja gewöhnt. Allerdings schubst er auch Lischen-Radieschen beinahe die Treppe hinunter, die daraufhin ihren Missmut kundtut.
Und nun geht’s los. Fußballfans halten natürlich zusammen, klar, und nun stehen wir oben, eingeklemmt zwischen so genannten Sicherheitskräften der DB-Sicherheit und so genannten Polizeibeamten, während mir die angesoffenen Fans in der Hoffnung auf eine zünftige Schlägerei mehrfach mit der flachen Hand ins Gesicht langen und mir erzählen, Leute wie mich hätte man früher in die Gaskammer gesteckt, dass ich unwertes Leben wäre und was man alles mit meiner Frau anstellen werde.
Normalerweise bin ich nach vielen Jahren des Radfahrens in Hamburg und als Vielfahrer in der Bahn geübt darin, mir solchen Unsinn nicht zu Herzen zu nehmen, aber in diesem Fall konnte ich mich der Situation ungünstigerweise nicht direkt entziehen, denn direkt hinter mir standen ja die Leute von der DB-Sicherheit und widmeten sich intensiv ihren Smartphones. Und so gerne höre ich mir die detaillierte Beschreibung, wie ein betrunkener Fan meine Frau vergewaltigen wird, auch nicht an. Ich sag mal so: Ein Ermittlungsverfahren würde mutmaßlich wegen „gegenseitiger Beleidigung“ eingestellt. Ist ja nichts passiert, wie man so schön sagt. Aber ich habe mich tatsächlich auch nicht unbedingt mit Höflichkeiten zurückgehalten.
„Ist ja nichts passiert“ ist allerdings auch ein sehr optimistischer Ausgang, denn einer der Fans, der eben noch seine Wodka-Flasche in der rechten und seine junge Tochter an der linken Hand hielt, zog plötzlich ein Messer. Was für eine absurde Situation: Ein volltrunkener Vater zieht morgens in Gegenwart seiner Tochter und der Polizei ein Messer. Er traute sich zwar nicht zuzustechen, aber das war schon ein, nun ja, interessanter Moment. Die Polizei stand zwar keine drei Meter entfernt, hat’s aber entweder nicht mitbekommen oder sich nicht dafür interessiert oder beides oder keine Lust auf den ganzen Ärger.
Warum bleibt der Typ mit dem Fahrrad auch nicht einfach zu Hause?
Andererseits: Wer nimmt denn ein Messer mit ins Stadion? Klar, Pyrotechnik schleusen die Leute auch einfach an den Kontrollpunkten vorbei, aber ein Messer? Sowas nimmt man ja nicht mit, um sich im Stadion einen Apfel zu schneiden. Aber wenn’s kein Messer war, was war’s dann? Ich nahm mir in dem Moment nicht die Zeit, um mir die Sache genau anzusehen, vielleicht hatte er weiterhin nur die Wodkaflasche in der Hand, in die das Licht in dem Moment fiel, so dass mein Gehirn aus diesem Blickwinkel und aus dem Kontext heraus das Ganze als Messer wahrgenommen hat. Ein Lineal wird er ja nicht plötzlich aus der Tasche gezogen haben.
Wir fuhren dann, Gottseidank, nicht mit dem Nahverkehr weiter, sondern mit dem IC 2070.
Der RE 70 mit den Fans überholte uns dann noch in Neumünster, wo schon recht viele Bundespolizisten auf dem Bahnsteig warteten. Schade, dass die Beamten nicht direkt im Zug eingesetzt werden und konsequent jeden rauswerfen, der sich nicht zu benehmen weiß.
Und was lernen wir nun daraus? Am Wochenende lieber noch mal kontrollieren, ob der eigene Fahrplan mit Fußballfans kollidiert? Ist das alles, was uns als Gesellschaft einfällt?
Ich will jetzt gar nicht Vergleiche anstellen zu dem Anschlag von Brokstedt, aber gegen so genannte Klimakleber oder die Silvester-Randalierer aus Berlin fordern wir als Gesellschaft die volle Härte des Rechtsstaats, doch wenn Fußballfans einen Zug zerlegen und gegenüber Fahrgästen übergriffig auftauchen, dann ist das okay? Das will mir nicht so richtig in den Kopf. Ständig wird mit der Räumung des Zuges gedroht, aber es traut sich niemand, das mal richtig durchzuziehen? Die Polizei beklagt, vermutlich zurecht, eine Enthemmung der Gewalt gegen Polizeibeamte, aber wo findet dann die Gewalt gegen Fahrgäste in der Bahn Berücksichtigung?
Ich mag ja gar nicht daran denken, wie geil das dann mit dem 49-Euro-Ticket wird, wenn die Leute noch kostengünstiger durchs Land fahren können als mit ihren Schönes-Wochenend-Tickets.
„Schönes-Wochenend-Ticket“ ist ja auch mal wieder so eine Bezeichnung, die auf den Prüfstand gehört.