Und was lernen wir nun daraus? Am Wochenende lieber noch mal kontrollieren, ob der eigene Fahrplan mit Fußballfans kollidiert? Ist das alles, was uns als Gesellschaft einfällt?
Gestern wollten wir eigentlich von Rostock nach Hamburg radeln. Wir guckten also nach: Rostock spielt zuhause, also werden wir den Teufel tun, in die Bahn zu steigen. Weil das Wetter nicht mitspielte, wurde die Radtour auf heute verlegt: Von Itzehoe irgendwie wieder nach Hamburg auf einem Umweg mit insgesamt 100 km.
Natürlich haben wir nicht rausgekriegt, dass heute der HSV in Hamburg spielt.
Das erfuhr ich heute morgen erst am Lüneburger Bahnhof, als ich an den ersten HSV-Fans vorbei kam und direkt homophob belästigt wurde. Klar: Ich habe ohnehin einen seltsamen Körperbau, bei dem die Proportionen nicht so recht zusammenpassen wollen, ein Gesicht zum Reinschlagen, dann habe ich als Alleinstellungsmerkmal noch ein Fahrrad dabei und trage zu allem Überfluss noch meine Fahrrad-Leggins. Mir fehlt eigentlich nur noch das Blinklicht auf dem Kopf: Hier bin ich, macht mich dumm an.
Die Fahrt nach Hamburg war glücklicherweise einigermaßen in Ordnung, weil der Fahrradwagen weit vom Treppenaufgang entfernt hielt und darum nicht so sehr viele Fans den weiten Weg nach vorne schaffen. Der Alkohol zeigt eben auch um 8:30 Uhr schon seine ersten Auswirkungen.
Umstieg in Harburg. Ein Typ bittet verlangt einen Euro von mir, ich will ihm keinen geben, weil ich auf Radtouren auch gar kein Bargeld dabei habe. Das kann ich weder verlieren noch vergessen noch kann’s mir jemand klauen. Er findet’s nicht so gut, beleidigt mich, ein Wort gibt sich das andere. Dann zieht er Leine. Kommt nach ein paar Minuten zurück und sucht noch mehr Streit mit noch mehr homophoben Sprüchen. Das mit der Fahrradhose ist echt der Knaller.
Weiterfahrt im Intercity. Zwischen Harburg und Hamburg treffe ich noch ein paar Fußballfans, die beim Ausstieg in Hamburg ungefähr zehn Euro Dosenpfand zurücklassen, ansonsten aber nur aufgrund des Schals und nicht wegen der Lautstärke als HSV-Fans zu identifizieren waren.
Zehn Stunden später. Weil ich erst 99 km geschafft habe, drehe ich noch eine Runde um den Hauptbahnhof. Am Ausgang des Südstegs am öffentlichen Urinal ist Hamburg auch zu dieser Stunde noch blau-weiß, man hat ja schließlich gewonnen, und darum müssen dutzende Erwachsene ihr Revier markieren. Das öffentliche Urinal bietet nur zwei Pinkelbecken, der Rest pisst irgendwo in die Gegend, einer sogar gegen einen Rettungswagen.
Keine zehn Meter kotzt mir einer vors Rad.
Gut, runter zum Bahnsteig. Mir kommen Fußballfans aus dem Metronom aus Bremen auf der Treppe entgegen, irgendjemand mit gelben Farben hat dort wohl gespielt, und natürlich versucht man wieder am Fahrrad zu ziehen oder mich zur Seite zu drücken. Ist halt nicht jeder damit einverstanden, wenn jemand mit dem Fahrrad die Treppe nimmt, das ist ja an normalen Tagen nicht anders. Unten am Metronom suchen die ersten Leute direkt Streit, aber immerhin nicht mit mir. Dafür stolpert beim Einsteigen jemand theatralisch gegen mein Fahrrad, um mir anschließend eine Blase ans Ohr zu labern. Ich hab jetzt schon keine Lust mehr. Dann fraternisiert der Typ mit Fußballfans auf der anderen Seite des Fahrradwagens, die dort laut grölend ihren Erfolg begießen und das tun, was ein Fan tun muss, also auf dem Klo rauchen und laute Musik hören und sowas alles.
Und dann diskutieren sie ernsthaft minutenlang darüber, was bei mir wohl schiefgegangen sein muss im Leben. Und wieder fallen die üblichen Phrasen von wegen wo ich denn zur Schule gegangen wäre: Waldorfschule? Oder doch Auschwitz?
Und ich möchte gerne noch mal irgendjemandem die Frage stellen: Ist das so, dass wir als Gesellschaft diesen Zustand tolerieren? Ist das quasi Brauchtumspflege?
Und da sich der Staat aus dieser Problematik offenbar zurückgezogen hat: Wie setze ich mich denn als einzelner Fahrgast zur Wehr, wenn ich beispielsweise am Wochenende den Nahverkehr nutzen möchte oder in den Augen der lieben Fußballfans noch weitere einladende Merkmale aufweise, also beispielsweise weiblich bin? Nimmt man dann jetzt Pfefferspray mit oder wie soll ich das verstehen? Oder lautet der Tipp wieder: Tragt keine kurzen Röcke und fahrt am Wochenende mit dem Auto?