Das war gleichzeitig der Zeitpunkt, zu dem meine Unzufriedenheit mit der Pandemiebekämpfung in eine ganz neue Dimension eintrat.
Zwei Wochen später hat sich die Lage nicht wesentlich geändert.
Vorab noch mal der obligatorische Disclaimer: Als gesunder Angehöriger der Gruppe, der als Software-Entwickler den Rest seines Lebens von zu Hause arbeiten könnte, habe ich nunmal keine besonders hohe Priorität für eine Impfung. Das ist okay.
Und ich bin auch nach wie vor der Meinung, dass es eine ganze Menge Menschen gibt, die vor mir an der Reihe sein sollen. Nur: Irgendwann wäre ich auch gerne mal versorgt, denn auch ich möchte durchaus hin und wieder mal ein Restaurant besuchen, mit der Bahn fahren oder vielleicht sogar mal Urlaub machen. Bei den ganzen Helden, die jetzt während der Lockerungsübungen schon ohne Maske durch die vollgestopfte Innenstadt stapfen, weil verständlicherweise nicht mehr klar ist, bei welchen Inzidenzwerten über welchen Zeitraum in welchen Straßen eine Maske getragen werden muss, ob das auch für einmalig oder komplett Geimpfte gilt und die Gastronomie schreibt auf ihre Kundenstopper geradezu gegenteilige Regelungen: Bei dem einen darf man nur mit Maske sitzen, außer wenn gegessen wird, beim anderen läuft schon das Personal maskenlos zwischen den Tischen herum. Da habe ich ja so richtig Bock drauf.
Bei mir sieht es immer noch so aus, dass ich mittlerweile auf der Warteliste für neue Patienten bei einem Hausarzt stehe, vielleicht sogar schon in ein paar Wochen aufgenommen werde und so es Gott will dann auf eine Warteliste für eine Impfung rutsche. Wenn ich mich bei anderen Menschen in meinem Alter mit meinem Gesundheitszustand umhöre, sind die Wartelisten für Impfungen mehrere Kilometer lang und es wird in Aussicht gestellt, dass Angehörige der Gruppe 4 realistisch gesehen im Herbst oder im Winter dran sind. Der kalendarische Winter beginnt übrigens am 21. Dezember, das heißt, gemeint ist dann schon das Jahr 2022.
Selbst wenn ich die Fast-Lane-Karte spiele und aus irgendeinem Grunde als unabkömmlicher Mitarbeiter der Telekommunikationsbranche in Gruppe 3 rutschen sollte, kann ich mir hier in Niedersachsen erst ab dem 31. Mai über ein kompliziertes Verfahren einen Termin besorgen. Momentan sind schon andere Untergruppen der Gruppe 3 freigeschaltet, seit gestern zusätzlich Angestellte aus Supermärkten und Termine werden wohl gerade für den August vergeben. Selbst wenn ich mich ab dem 31. Mai bewerben könnte, wäre ich dann wohl realistisch gesehen im September an der Reihe. Dann noch ein paar Wochen warten bis zur eventuellen Zweitimpfung, dann noch ein paar Tage bis zum vollständigen Impfschutz, und schon ist Weihnachten, so schnell kann’s gehen. Wiederum andere Mitglieder der Gruppe 3 erklären, das stimme gar nicht, es würden momentan nur Termine bis Ende Juni angeboten, die aber schon alle vergeben sind, und man müsse sich gedulden bis der nächste Schwung an Terminen freigegeben wird. Ob das nun an unterschiedlichen Bundesländern liegt oder an was auch immer, kann ich nicht nachvollziehen. Nichts genaues weiß man nicht.
Vielleicht werden aber auch die Impfzentren zwischendurch geschlossen; darüber flattern quasi jeden Tag unterschiedliche Meldungen an mir vorbei. Und mir ist vollkommen unklar, was das bedeutet: Wird mein Termin im Impfzentrum dann storniert und ich darf mich beim Hausarzt ganz hinten anstellen? Das passt für mich alles einfach gar nicht mehr zusammen: Einerseits werden Termine für Impfzentren im Juni vergeben, andererseits wird mal so, mal anders darüber spekuliert, ob nicht aufgrund der hohen Kosten die Impfzentren schon im Juni geschlossen werden können. Kapiere ich nicht.
Dann gibt es diese Seite von ZEIT ONLINE, die täglich aktualisiert den Status der Impfkampagne aufschlüsselt: So viele Menschen wurden bereits geimpft
Dort lese ich Stand heute, dass bis Ende August 100 % der Bevölkerung vollständig geimpft sein soll. Das halte ich in dieser Form für eine gewagte Beschriftung der y-Achse des Graphen unter der Überschrift „Prognose“, denn einerseits zähle ich zur Bevölkerung auch Jugendliche und Kinder unter 16 Jahren, für die nach meiner Kenntnis heute noch keine Zulassung für Impfstoffe vorliegt und zur Bevölkerung zählt ja auch der konstante Anteil an Menschen, die sich einer Impfung verweigern oder aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können. Aber nehmen wir mal an, es handelt sich um den Anteil der impfwilligen Bevölkerung über 16 Jahre und der Begriff „vollständig geimpft“ bedeutet, dass eine eventuell notwendige Zweitimpfung erfolgt ist und seitdem auch die obligatorischen 15 Tage bis zum vollständigen Impfschutz verstrichen sind.
Gehe ich davon aus, dass ich AstraZeneca bekomme, was für mich mit meinen zarten 32 Jahren zwar nicht empfohlen wird, aber da die Generation ab 60 Jahren den Impfstoff angesichts seines schlechten Rufs ablehnt und ein Vorgriffsrecht auf Biontech und andere hat, könnte es ja so laufen. Ich muss dann also spätestens am 16. August meinen Termin zur Zweitimpfung bekommen, um bis Ende August einen vollständigen Impfschutz auszubilden. Daraus folgt, weil ich kein Blödmann bin und es nicht eilig habe, in den Sommerurlaub nach Malle zu starten, dass meine Erstimpfung zwölf Wochen vorher erfolgen muss, nämlich… am 24. Mai, also in sechs Tagen. Das ist sowohl für mich als auch für alle anderen der Gruppe 4 vollkommen unrealistisch und bedeutet, dass entweder der Graph etwas anderes meint oder aber die Zweitimpfung nicht eingerechnet ist. Oder vielleicht kapiere ich da auch irgendwas nicht.
Ich kann aber auch das Szenario „weiter wie bisher“ aufrufen, das die Zielmarke von Ende August anderthalb Monate nach hinten verschiebt. Dann müsste ich am 8. Juli geimpft werden, was zwar schon irgendwie wahrscheinlicher klingt, was ich aber dennoch nicht so richtig glauben möchte.
Und ich kann mittlerweile auch gar nichts mehr mit diesem „Impfangebot für alle im Juni/Juni/Sommer/Q3“ anfangen. Klar, dass niemals gemeint war, alle Menschen im Juni impfen zu können, aber ist dieses Freigabe der Priorisierung ab dem 7. Juni jetzt ernsthaft die Konsequenz aus dem „Impfangebot für alle“? Es gibt also keine Priorisierung mehr, aber ich darf mich als gesunder 32-Jähriger im Home-Office mit Eltern, mit Menschen der Gruppe 3 mit gewissen Vorerkrankungen und mit all jenen Über-60-Jährigen, die beim wöchentlichen Impfterminroulette nicht zum Zug Schuss gekommen sind, um eine begrenzte Anzahl von Impfterminen prügeln?
Das finde ich unanständig.
Vor allem irritiert mich dieser seltsame Geist von „Leistung muss sich wieder lohnen“, der momentan durch meine Filterblase auf Twitter weht: Wer als Angehöriger der Gruppe 4 noch keine Impfung bekommen hat, der hat sich einfach nicht genug angestrengt.
Und das ist richtig: Ich habe mich nicht genug angestrengt. Einerseits bin ich der Meinung, dass viele Menschen vor mir eher auf eine Impfung angewiesen sind als ich, andererseits weigere ich mich, täglich bei einem Dutzend Ärzten anzurufen, ob vielleicht noch irgendwo eine Dosis übrig ist. Da gehe ich doch den Angestellten am Telefon so schnell auf die Nerven, das halte ich für mich und vor allem für meine Gesprächspartner für eine Zumutung. Es gibt ja auch schon genügend Ärzte, die auf ihre Homepage schreiben, dass sie keine weiteren Patienten aufnehmen, Impfungen nur mit AstraZeneca an Über-60-Jährigen durchführen und man bitte von Anrufen um Restdosen absehen möge. Aber „Leistung muss sich wieder lohnen“ wohnt eben auch immer eine egoistische Komponente inne, so dass man dann wohl wider besseren Wissens anruft.
Und dann gibt es vereinzelte Aktionen, bei denen Ärzte, in der Regel größere Gemeinschaftspraxen, über mehrere Tage mehrere hundert Impfungen ohne Termin an alle durchführen. Unweit meiner Heimatstadt wird beispielsweise am Pfingstwochenende geimpft — wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ob es nun sinnvoll ist, dass ich dort ohne Garantie auf eine Impfung an mehreren Tagen ab 5 Uhr morgens im Regen vor der Praxis warte? Vor allem gibt es ja gar keine Garantie, dass ich drankomme, denn nach Auskunft der niedersächsischen Impfhotline darf ich als Niedersachse nicht in Schleswig-Holstein geimpft werden. Aber vielleicht hat sich das auch schon wieder geändert und vielleicht hat Schleswig-Holstein eine andere Regelung und vielleicht ist der Gemeinschaftspraxis das auch sowas von egal und vielleicht war das auch einfach eine Falschinformation, die sich aber perfekt ins Gesamtbild einreiht:
Nichts genaues weiß man nicht.
Bleibt also nur eines: abwarten. Und ja, das ist okay, ich hab’s ja nicht eilig. Aber ich komme mir ziemlich blöd vor, etwas von einem Impfangebot für alle zu hören, wenn ich auf einer Warteliste für eine Warteliste stehe, die so lang ist, dass der Arzt seine Praxis drei Mal einwickeln könnte.