EC 172 also.
Auf die Plätze, fertig, los. Ich war auf alles gefasst. Es ist 19 Uhr und im Berliner Tiefbahnhof ist deutlich weniger los als ich angesichts der baustellenbedingten Sperrung des Hochbahnhofes vermutet hatte. Um 19.15 Uhr fährt der EC 172 auf Gleis 8 ein. Ich befürchte schon schlimmes, da keine anderen Fahrgäste mit Fahrrad zu erkennen sind und meine Reservierungsnummer deutet darauf hin, dass zumindest vor mir nicht besonders viele Fahrradstellplätze gebucht worden sind. Außerdem gibt es heute keine beschilderten Sitzplatzreservierungen.

Ein flüchtiger Blick ins Fenster von Wagen 255 offenbahrt: Drei Fahrräder. Drei Fußlinge auf drei Klappsitzen, diverse Gepäckstücke und… eine Dame mit einem elektrischen Rollstuhl, die nunmal zwangsweise die übrigen Halterungen blockiert. Kein Platz für mein Fahrrad.
Prima. Ich sehe mich schon wieder im ibis am Kurfürstendamm, eine Nacht auf Kosten der Bundesbahn schlummern. Wie arschig wäre es denn bitte, sich mit einer Rollstuhlfahrerin um einen Stellplatz für mein Fahrrad zu streiten? Keine Frage: Rollstuhl vor Fahrrad. Allerdings, liebe Deutsche Bahn, warum gibt es in diesem Zug keine vernünftigen Plätze für Fahrgäste mit Rollstuhl? Dass ich eventuell mein reserviertes Fahrrad nicht mitnehmen kann, weil eine Rollstuhlfahrerin im Fahrradabteil mitfährt, ist für mich ärgerlich. Da wurde bei der Buchung ja wieder großartig kalkuliert. Dass die Dame wiederum darauf angewiesen ist, dass noch irgendwie Platz im Fahrradabteil ist und sie dort zwischen Fahrrädern und Koffern reisen darf… naja. Und den Streit, wenn eine Rollstuhlfahrerin in einem vollbeladenen Fahrrad-Abteil mitfahren möchte und plötzlich drei bis vier Fahrräder ausgeladen werden müssen, deren Besitzer dann sehen können, wie sie zum Ziel kommen… das kann man alles bestimmt besser organisieren.
Es stellte sich dann allerdings heraus, dass die Dame in Berlin aussteigen wollte. Und damit nahm das Drama seinen Lauf.

Sie tuckerte langsam rückwärts.
Noch ein bisschen rückwärts.
Noch ein bisschen.
Dann stößt sie hinten gegen die rückwärtige Rampe.
Die Rampe klappt sich auf. In einer Höhe von knapp anderthalb Metern.
Der Rollstuhl kippt leicht nach hinten.
Und anschließend spüre ich einen stechenden Schmerz im rechten Knie, weil ich mir irgendwie das Bein an dieser Rampe angeschlagen habe. Es stellt sich heraus, dass ich die drei Meter von meinem Fahrrad bis zur Rampe in wenigen Millisekunden zurückgelegt und den Rollstuhl samt der Dame wieder nach oben geschoben habe. Ich kann mich absolut nicht daran erinnern, ich weiß nur noch, dass plötzlich alle Umstehenden der Meinung waren, ich hätte der Dame gerade das Leben gerettet. So hochtrabend würde ich das nun nicht bezeichnen, schließlich wäre sie vermutlich rückwärts hinuntergekippt, außerdem war ja ihr Kopf von ihrer Nackenstütze geschützt, aber irgendwie… manchmal bin ich ein cooler Typ.
Und nun ärgere ich mich, dass es davon keine Beweisfotos oder -videos gibt. Das war vermutlich die beste Tat, die ich bislang vollbracht habe, und dann glaubt es mir kein Mensch.
Immerhin: Der Zugbegleiter räumt mir als Held des Tages jetzt das Fahrradabteil frei.

Leider ging die Bauchpinselei dann nicht soweit, dass mir der Typ, der sich auf meinem reservierten Platz niedergelassen hätte, diesen freundlicherweise überlassen hätte. Keine Reservierungsanzeigen, keine Reservierung, tönte er. Whatever. Ich war nicht in der Stimmung, mit ihm zu streiten. Außerdem, wenn wir hier schon bei Karma und Hilfsbereitschaft sind: Geben mir nun 4,50 Euro das Recht, auf seinem Platz zu sitzen? Dafür muss er sich dann irgendwo in einer Nische verkriechen.
Ich kann allerdings nicht leugnen, dass ich es schon ganz cool gefunden hätte, hätte mir der Zugbegleiter einen Platz vorne in der ersten Klasse verschafft. Immerhin habe ich ihm und seinen Kolleginnen ziemlich viel Ärger erspart und hocke jetzt gerade mit einem schmerzenden Knie auf dem Boden zwischen Koffern und Fahrrädern.