Erstmal staunte ich ja nicht schlecht, als der RE 7 mit hübschen Doppelstockwagen am Bahnsteig stand. Das waren zwar noch immer nicht die eigentlich versprochenen megamodernen Doppelstockwagen, die ursprünglich seit zwei Wochen zwischen Hamburg und Flensburg fahren sollten, jetzt mit etwas Glück von Bombardier bis Mitte 2016 geliefert werden, aber immerhin ein großer Fortschritt zu dem alten Rumpel-Rollmaterial, was dort seit Jahren eingesetzt wurde und auch jetzt noch eingesetzt wird, damit die Regionalbahn irgendwie den Stundentakt halten kann. Vor dem Fahrplanwechsel fuhr der Schleswig-Holstein-Express nur alle zwei Stunden mit alten n-Wagen, die am Fahrkomfort nur noch von den Regionalbahnen zwischen Flensburg und Neumünster unterboten wurden.

So stand ich also zwanzig Minuten vor der geplanten Abfahrt mit meinem Bike und meiner Tasche dort und es ließ sich absehen, dass es nicht so geil würde. Ich wollte ja eigentlich tatsächlich standesgemäß sowas wie Riding home for christmas machen, aber nachdem mein Gepäckträger dann doch nicht ans Crossrad passte, schmiss ich den Plan um und fuhr doch mit der Bahn.
Mir wurde eigentlich erst in der nächsten halben Stunde bewusst, was das eigentlich für ein ambitioniertes Vorhaben am Tag vor Heiligabend war.
Diese Doppelstockwagen haben den Vorteil, dass es immerhin ein Mehrzweckabteil gibt. Das ist eine deutliche Verbesserung im Vergleich zu den ollen n-Wagen, bei denen, naja, sagen wir mal vier Fahrräder hineinpassten — natürlich nur, wenn keine Fußlinge zugegen waren:

Nun hat das Mehrzweckabteil bei der Regionalbahn Schleswig-Holstein aber den Nachteil, dass dort meistens Fahrgäste sitzen, die nur den Komfort der unbequemen Klappsitze zu schätzen wissen, weil man dort quer zur Fahrtrichtung sitzt. So toll ist es dort unten nicht, es ist laut und wackelig und in der Regel stinkt es nach Fäkalien, wenn mal wieder jemand die Tür zur Toilette nicht geschlossen hat. Ds mit dem Mehrzweckabteil wird sogar auf an den Zugängen angebrachten Schildern noch erklärt: Kinderwagen, Rollstühle, Fahrräder, Sperrgepäck. Im Metronom ist das besser gelöst: Dort gibt es ein Mehrweckabteil und ein Fahrradabteil. Und letzteres kann man auch nicht falsch verstehen, weil es dort keine Sitze, dafür aber erstklassige Fahrradhalterungen gibt.

Nun ist mir ja klar, dass um Weihnachten herum die Züge voller sind und längst nicht nur Fahrgäste mit Kinderwagen und Rollstühlen dort sitzen. Allerdings war das Mehrzweckabteil schon zwanzig Minuten vor Abfahrt prall gefüllt mit vielen Fahrgästen und verhältnismäßig wenigen Koffern. Scheiße, dachte ich, und fragte relativ hoffnungslos die Zugbegleiterin, ob ich denn wohl im Türraum mitfahren dürfe oder auf den nächsten Zug warten müsse.
„Moment“, sagte sie, „ich geh mal aufräumen.“
Und dann passierte etwas, was ich in den letzten Jahren nun wirklich noch nicht erlebt hatte: Die Zugbegleiterin machte im Mehrzweckabteil eine sehr deutliche Ansprache, dass dieser Raum für Rollstühle, Kinderwagen, Fahrräder und Sperrgepäck vorgesehen wäre.
Ihre Stimme klingelte mir zwar im Ohr, doch die Worte verhallten ungehört, weil die Fahrgäste kollektiv vorgaben, sie nicht gehört zu haben. Die Dame suchte daraufhin die direkte Konfrontation und zählte auf, wer alles gehen müsse: Der kleine Koffer da passt auch in jede Gepäckablage, die Reisetasche unter den Sitz, also raus hier — der Zug war zwar schon gut gefüllt, aber noch längst nicht voll, als dass man das Mehrzweckabteil hätte fluten müssen.
Schließlich erhoben sich dann doch einige Fahrgäste und verließen unter Klosterstern-Protest das Abteil („Guck mal, wegen so einem Arschloch müssen wir jetzt aufstehen.“). Und ich weiß nicht, wie das jetzt tatsächlich abgelaufen ist, aber nach ein paar Minuten war das Abteil leer, von einem zweiten Radfahrer und einer vierköpfigen Reisegruppe mit riesigem Gepäck mal abgesehen.
Ich bummelte also mein Fahrrad an die Seite, stellte die Tasche daneben, so dass ich drei der Klappsitze blockierte. Und ich war mir schon zu diesem Zeitpunkt nicht sicher, wie es nun weitergehen sollte, denn schließlich hatten die anderen Fahrgäste noch eine Viertelstunde Zeit, das Mehrzweckabteil erneut in Beschlag zu nehmen. Tatsächlich dauerte es nur fünf Minuten, bis wieder die üblichen Verdächtigen sämtliche Klappsitze okkupiert hatten.
Der andere Radling machte es geschickt: Er schloss sein Fahrrad ab und machte sich aus dem Staub. Ich blieb leider bei meinem Bike, was den Nachteil hatte, das man mich anmaulen konnte. Und es dauerte nicht lange, bis mir ein Fahrgast in einem recht abenteuerlichen Ton offenbahrte, dass ich mich verziehen werde, damit seine Frau sitzen könnte. Das Problem an der Sache war, dass seine Frau schwanger war.
Klare Sache: Schwangere Frauen bekommen einen Sitzplatz.
Nun kann man natürlich darüber diskutieren, ob es unbedingt mein Sitzplatz sein müsste, der auf das Mehrzweckabteil eher ein Recht hat, oder ob vielleicht jemand mit kleinem Gepäck seinen Platz freigeben könnte, der auch woanders im Zug noch hätte Platz finden können. Aber der Typ stellte klar: Ich hatte ein Fahrrad dabei, also wäre ich derjenige, der seiner schwangeren Frau Platz macht.
Ich kann die Logik ja schon ein bisschen nachvollziehen: Ein Fahrrad über Weihnachten mit nach Hause zu nehmen ist eher ein Privatvergnügen, während an Kinderwagen, Rollstühlen und Gepäck nunmal kein Weg vorbeiführt. Trotzdem hat diese Argumentation immer den faden Beigeschmack von Rosa Parks: Du hast die falsche Hautfarbe oder die falsche Nationalität, also machst du den Menschen mit der richtigen Hautfarbe und der richtigen Nationalität Platz.
Ich rückte mein Rad etwas zur Seite, disponierte meine beiden Taschen um, die schwangere Frau keifte derweil blöd herum und der Typ machte nochmal deutlich, dass er während der nächsten anderthalb Stunden gerne den Blödmann im Abteil spielen wollte.
Was im Gegensatz zu meinen anderen Bahnfahrten dieses Mal auch ganz witzig war: Normalerweise sammelt man ja immer Sympathien, wenn man gegen einen #ScheißRadfahrer stänkert, aber der Typ schaffte es, sich mit seinem Auftreten ziemlich unbeliebt zu machen. Ich weiß nicht mehr, welchen Weg seine Argumentation genommen hat, aber es endete damit, dass es doch eine Selbstverständlichkeit wäre, einer Frau einen Sitzplatz anzubieten, ganz unabhängig davon, ob sie schwanger ist oder nicht.
Und weil die schwangere Frau, die mittlerweile neben mir saß, aus dem Keifen auch nicht mehr herauskam, wollte ich mein Fahrrad auf die andere Seite gegen das andere Bike lehnen, um diese blöde Radfahrer-Argumentationen endlich aus der Welt zu schaffen. Die fünfsekündige Gelegenheit nutzte aber der missmutige Typ, um sich meinen Sitzplatz zu schnappen.
„Ganz schön unhöflich“, meinte ich daraufhin, „ich sehe hier mindestens sieben nicht-schwangere Frauen, die noch keinen Sitzplatz haben.“ Er hatte aber keine Lust, auf meine Provokation einzugehen und meinte ganz väterlich: „Komm, lass gut sein, ja?“
Das ist bestimmt einer dieser Kraftfahrer, die auch immer alles besser wissen, obwohl sie keine Ahnung haben. Und auch wenn mein Vorhaben, in der Weihnachtszeit mein Rad mit in die Bahn zu schleppen, sicherlich recht ambitioniert war: Mit einer schwangeren Frau in einem überfüllten Zug zu steigen finde ich auch ganz mutig. Wären die beiden fünf Minuten später gekommen, wären sie schon im Türraum stecken geblieben, da hätte denen kein noch so lautes Gekeife einen Sitzplatz verschafft.
Nun gut. Nachdem sich die beiden recht unbeliebt gemacht hatten, wurden noch ein paar Unfreundlichkeiten mit den übrigen Fahrgästen ausgetauscht. Ich fand mich derweil damit ab, diese Fahrt wohl im Stehen zu verbringen — hätte ich mir ja eigentlich denken können.

Nun fuhr die Bahn allerdings nicht ab, weil immer noch Fahrgäste zwischen den Türen klemmten. Bei zwei oder drei Türen mag man das ja noch in den Griff bekommen, aber laut dem Bericht aus dem Türraum schauten aus mindestens fünf oder sechs Türen noch Koffer oder Körperteile hervor. Wir verließen den Bahnhof dann mit einer Verspätung von zwanzig Minuten.
Ich unterhielt mich derweil bestens mit den anderen Fahrgästen. Es stellte sich heraus, dass insgesamt sechs der redseligen Fahrgäste regelmäßig mit dem Rad ins Bureau fahren, einer sogar mit einem Liegerad, und sogar eine gewisse Abneigung gegen Radwege zu spüren war. Die fanden sich sogar in den Verkehrsregeln gut zurecht. Wir naschten einige Fahrradkekse, die ich mit meiner Freundin gebacken hatte, und quatschten über dies und jenes, während das Abteil bei jedem Halt noch voller wurde. Das ist bei der Verpixelung natürlich kaum zu erkennen, aber da stehen bestimmt zwanzig Fahrgäste herum:

Aber das bemerkenswerte war definitiv, dass ich trotz Fahrrad nicht das totale Arschloch war.
Liegt aber bestimmt nur an der Weihnachtszeit.