Es fällt mir aber schwer. Denn die Länder mit dem höchsten Radverkehrsanteil haben nunmal einfach die beste Infrastruktur. Fragt man die Verantwortlichen in Kopenhagen, wie es dazu kam, sind die Antworten eindeutig: "Wir haben Radwege gebaut und dadurch kam der Radverkehr". Ich sehen keinen Grund, daran zu zweifeln. Ganz im Gegenteil: Die vielen Gehwegradler zeigen, wie stark der Bedarf an einer Infrastruktur abseits der Fahrbahn ist.
Ich habe mich in den letzten drei Tagen bei Gelegenheit hingesetzt und tatsächlich eine endlos lange Liste mit Namen von Menschen erstellt, mit denen ich schon einmal Fahrrad gefahren bin. Dann habe ich alle Personen gestrichen, die aus dieser Hamburger Fahrradszene, dem Radverkehrsforum oder der Critical Mass stammen, die also ohnehin größtenteils auf der Fahrbahn unterwegs sind und die ich nicht zu diesen „normalsterblichen Radfahrern“ zähle.
Übrig blieben 67 Menschen, mit denen ich schon einmal Fahrrad gefahren bin und an deren Namen und Fahrverhalten ich mich so einigermaßen erinnern kann.
Lediglich ein einziger davon fährst regelmäßig auf der Fahrbahn. Das ist ein sehr guter Freund von mir, der ebenfalls durch dieses Critical-Mass-Ding sozialisiert wurde, aber den ich nicht gestrichen habe, weil er eigentlich eher so nebenbei dort reingerutscht ist und nicht der typische Critical-Mass-Teilnehmer ist. Er lässt sich aber auch nicht vom Gehupe vertreiben und ist demnach eher „einer von uns“.
Bei fünf anderen Menschen kann ich mir vorstellen, dass man mit ihnen auf der Fahrbahn könnte, weil sie nämlich im Besitz eines Rennrades und demnach dem Schnellfahren nicht so ganz abgeneigt sind. Ich verstehe das Fahren mit höherer Geschwindigkeit als Türöffner, um mit solchen Leuten dann auch auf der Fahrbahn zugange zu sein.
Meine persönliche Statistik sieht also so aus, dass 1,5 Prozent der Radfahrer auf der Fahrbahn fahren. Bei weiteren 7,5 Prozent sehe ich eine Möglichkeit, die Menschen dauerhaft auf die Fahrbahn zu bekommen.
Dann bleiben aber noch weitere 91 Prozent übrig, bei denen ich keine Ahnung habe, wie ich sie auch nur ansatzweise auf die Fahrbahn bekommen sollte.
Ich fange gleich mal mit dem Extrembeispiel an: Mein Großvater war 93 Jahre alt, als der Herr die Zeit gekommen sah, ihn zu sich zu holen. Großvater war aber fit bis ins hohe Alter, das Autofahren hatten wir ihm zwar abgewöhnt, aber mit dem Rad war er immer noch unterwegs. Weil er zwar fit, aber nicht mehr so richtig beweglich war, musste er regelmäßig absteigen, denn solche Experimente wie Schulterblick, linken Arm raushalten und links abbiegen machte die Muskulatur nicht mehr mit. In seinem Heimatort war er in der komfortablen Situation, dass sich die 1,5-Meter-Geh-und-Radwege mit
in beiden Richtungen befahren ließen, aber abseits der Hauptstraßen blieb er lieber auf dem Gehweg, weil sein Reaktionsvermögen nicht mehr das beste war. Nun könnte man zwar argumentieren, dass man gerade mit dem mangelnden Reaktionsvermögen vielleicht besser nicht dort fährt, wo jemand plötzlich den Rückwärtsgang einlegt und quer auf dem Gehweg vor der Grundstückseinfahrt steht, aber… 93 Jahre? Da habe ich erst gar nicht den Versuch unternommen, irgendwie mit ihm zu diskutieren. Er fühlte sich auf Rad- und Gehwegen sicher, gondelte da mit zehn bis zwölf Kilometern pro Stunde hin und war auf diese Weise mobil — ihn davon zu überzeugen, er solle doch lieber auf der Fahrbahn fahren, hätte wohl eher dafür gesorgt, dass er das Rad stehen lässt.
Eine Kommilitonin von mir ist 26 Jahre alt und fährt ebenfalls regelmäßig mit dem Rad — aber halt auch immer brav auf dem Radweg. In der Tempo-30-Zone klappt auch die Sache mit der Fahrbahnradelei, ansonsten wird auf dem Gehweg gekurbelt, wenn es keinen Radweg gibt. Gleichzeitig wird aber auch mal hin und wieder eine Ampel bei rot mitgenommen, wenn gerade kein Auto in der Nähe ist und wenn man eh bald links abbiegen möchte, ist auch Geisterradeln okay. Durch einen fiesen Trick habe ich es mal geschafft, mit ihr direktes Linksabbiegen über einen Linksabbiege-Fahrstreifen zu praktizieren — sie hätte mich ernsthaft am liebsten umgebracht. Auf dem Fahrstreifen zum Geradeausfahren standen drei Autos, hinter uns ein weiterer Wagen, aber sie empfand das als ausgesprochen super-gefährlich. Ich habe keinen Schimmer, wie ich sie auf die Fahrbahn bringen sollte.
Ein weiterer Kommilitone war 23 Jahre alt, als er sich von seinem Werkstudenten-Gehalt mal wieder ein stabiles Fahrrad angeschafft hatte. Damit wollte er täglich zur Uni und zurück fahren, fit bleiben und abnehmen und so, aber sein Problem war, dass er vorher das Radverkehrspolitik-Blog gelesen hatte und daher informiert war, wo man Fahrrad fährt und wo nicht. Sein Weg führte aber teilweise die B431 in Wedel entlang, die im markierten Bereich ohne Radverkehrsinfrastruktur auskommt — und man wird im Regelfall mindestens einmal pro Strecke gemaßregelt, wenn man dort Fahrbahnradeln praktiziert. Es ist eben ziemlich eng, geht nicht besonders schnell voran und alle anderen Radfahrer kampfradeln nebenan auf dem Gehweg, da wird der einzige Fahrbahnradler natürlich umso mehr als Störfaktor wahrgenommen. Jedenfalls hatte mein Kommilitone nach drei oder vier Tagen die Nase voll, bemängelte mir gegenüber die fehlende Infrastruktur und fuhr danach wieder mit dem Auto zur Uni. Ich habe ihn allerdings noch regelmäßig mit dem Rad herumfahren sehen, allerdings… eher auf Rad- und Gehwegen.
Mein Vater ist 65 Jahre alt und fährt seit der Pensionierung wieder regelmäßiger mit dem Rad herum. Er nutzt brav jeden Radweg, fährt aber prinzipiell eher nicht auf Gehwegen, weil er Gehwegradler wie die Pest hasst. Er käme allerdings nie auf die Idee, trotz Radweg auf der Fahrbahn zu fahren — zwar kennt er dank mir mittlerweile alle Untersuchungen bezüglich der Sicherheit von Radwegen, aber ihm ist seine Ruhe auf dem Rad sehr wichtig. Das kann ich auch verstehen: Wenn man oben in Rendsburg trotz Radweg mitten auf der Straße fährt, folgen sofortige Maßregelungen, selbst auf den ziemlich brisanten Strecken, die ohne blaues Schild auskommen. Da hat er keine Lust drauf, denn er will nicht schnell von A nach B kommen, sondern das Radfahren genießen — als Pensionär hat er ja Zeit.
Und so weiter und so fort. Bei all diesen Menschen fehlt mir jegliche Idee, wie ich sie vom Fahrbahnradeln begeistern sollte. Aber ich kann bei den meisten bereits am Fahrverhalten ablesen, dass sie wohl eher nicht für das Fahrbahnradeln zu überzeugen sind. Wenn man mit denen ins Gespräch kommt, ist die Fahrtrichtung auch sofort klar: Wenn es bessere Radwege gäbe, dann führen sie auch mehr Fahrrad. Aber sie wollen trotz aller noch so tollen objektiven Vorteile nicht auf der Fahrbahn radeln, weil es ihnen subjektiv unsicher erscheint, weil sie dort zwischen den Autos herumstehen und im Zweifelsfall gemaßregelt werden.
Ich sehe es ja an mir selbst: Wenn ich in die Verlegenheit kommen sollte, mit dem Rad zur S-Bahn zu fahren, dann nähme ich mittlerweile lieber die Elbgaustraße mit dem tollen 1,25-Meter-Hochsicherheitsradweg mit dem freigegebenen Gehweg zwischendurch. Einfach nur, weil ich dort im Gegensatz zur Fahrbahn niemandem im Nacken habe — dann fahre ich lieber halb so schnell, passe an jeder Kreuzung und Einmündung auf, ob ich womöglich übersehen werde, aber ich bin im Herrgottesnamen dankbar dafür, dass mir niemand am Hinterrad hängt und mich am liebsten totfahren möchte.
Oder mal eine Ebene höher betrachtet: Ich hatte im letzten Dreivierteljahr zwei Unfälle mit Gehirnerschütterung, einer in einer Tempo-30-Zone, in der mich ein Kraftfahrer erst beinahe überfahren hätte und mich anschließend verprügelte, der andere auf einem Radweg, wo ich mir mit einem anderen Kraftfahrer trotz Blickkontakt nicht im Klaren war, wer nun zuerst fährt. Dazu kommt aber noch eine unendlich lange Liste an Maßregelungen auf der Fahrbahn, beginnend mit Anhupen und guten Wünschen durchs Beifahrerfenster, endend mit Prellungen im Krankenhaus, weil jemand mich mit seinem Wagen abgedrängt hat, weil er irgendwo einen Radweg gesehen hat. Ich weiß nicht — wie soll ich mich denn verhalten, das so etwas nicht passiert? Und: Wie bringe ich es meiner Freundin bei? Ein drittes Mal steht sie diesen Anruf von der Polizei, dass ihr Freund halb unter dem Auto liegt und nicht mehr spricht, wahrscheinlich nicht durch.
Mir ist sehr wohl bekannt, dass eine Fahrbahn objektiv sicherer ist, aber ich kann langsam echt nicht mehr behaupten, dass ich gerne Fahrbahnradelei praktiziere. Mittlerweile meide ich sogar bestimmte Strecken ohne Radweg, weil es mir einfach zu stressig ist. Ich will momentan mit meinem Fahrrad von A nach B fahren, aber jedes Mal, wenn ich auf den Sattel steige, kämpfe ich in einem Krieg mit, den ich gar nicht kämpfen will. Mittlerweile wird es zu einem Politikum, das Fahrrad aus dem Keller zu holen, weil man sich damit gesellschaftlich positioniert.
Wie absurd das alles ist!
Ich will einfach nur entspannt ins Bureau fahren. Aber ausgerechnet dieses Radfahren, dass angeblich so einfach ist, dass es jedes Kind beherrscht, ist so kompliziert, dass man sich tausend Gedanken über irgendwelchen Kram machen muss.
Ich weiß auch nicht, ob nun Radwege oder Fahrbahnen nun der heilige Gral der Radverkehrsförderung sind. Und ich weiß, dass ich nicht wissenschaftlich beweisen kann, dass mehr Radwege zu mehr und besserem Radverkehr führen — aber wenn ich Kopenhagen, Amsterdam oder Groningen mit London, Berlin und Hamburg vergleiche und anschließend noch meine Erfahrungen aus Gesprächen mit anderen Radfahrern mit einfließen lasse, dann scheint es mir doch relativ eindeutig zu sein, dass eine gute, sichere, aber eben auch separierte Fahrradinfrastruktur zumindest nichts ist, was dem Radverkehr nachhaltig schadet.
Klar, wenn im Jahr 2050 nur noch halb so viele Verbrennungsmaschinen unterwegs sind und flächendeckend Tempo 30 gilt, dann mag auch die Fahrbahnradelei größere Akzeptanz erfahren. Nur: Was macht man bis dorthin?