Lammert: Ich mache jedenfalls gerade auch in diesem Wahlkampf darauf aufmerksam, dass wir nicht sicher wissen können, ob die Themen, mit denen wir uns jetzt im Wahlkampf aus guten Gründen vorrangig beschäftigen, überhaupt die dominierenden Themen der nächsten vier Jahre sein werden.
Detjen: Beispiel?
Lammert: Wenn ich jedenfalls die Legislaturperiode betrachte, die jetzt zu Ende geht, dann war sie vor allen Dingen durch Herausforderungen geprägt, die in keinem Wahlprogramm der damals miteinander rivalisierenden Parteien vorgesehen waren. Dieser Bundestag hatte sich, nachdem er sich konstituiert hatte, als Erstes mit den Entwicklungen in der Ukraine auseinanderzusetzen. Das hätte niemand für möglich gehalten. Was zunächst mit der sogenannten Maidan-Revolution an inneren Auseinandersetzungen, dann an zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland, schließlich der Besetzung und Annexion der Krim stattgefunden hat, mit einer nicht nur vorübergehenden, sondern offenkundig fundamentalen Herausforderung einer Friedensordnung in Europa, von der wir alle geglaubt und nicht nur gehofft hatten, dass sie spätestens durch die Pariser Charta von allen europäischen Staaten, einschließlich Russlands, unterzeichnet, die Prinzipien des Zusammenlebens in Europa ein für alle Mal geklärt haben würde. So, wir haben dann die denkwürdige Entscheidung in Großbritannien gehabt, wo zum ersten Mal nicht irgendein Land, sondern eines der ganz großen und wichtigen Länder nicht der EU beitreten, sondern zum ersten Mal ein Land von diesem Kaliber aus der Europäischen Gemeinschaft ausscheiden will. Wir haben die Entwicklung in der Türkei, wo bei genauem Hinsehen eigentlich zwei Putschversuche stattgefunden haben, von denen der erste gescheitert ist und der zweite erfolgreich zu werden droht.
Detjen: Wenn man diese Reihe jetzt fortsetzt, dann nimmt man die Flüchtlings- und Migrationskrise dazu. Was heißt das dann für Politik? Heißt das, dass Politik eben nicht um Konzepte mehr ringt, sondern tatsächlich einfach um die Frage: Wer ist der beste Krisenmanager? Es geht um Management-Fähigkeiten?
Lammert: Jedenfalls macht das deutlich, dass es bei Wahlen nicht nur um die notwendige Abwägung der Frage geht: Wer hat das intelligentere, attraktivere Steuerkonzept? Wer macht die überzeugenderen Vorschläge für Weiterentwicklungen im Bereich der Förderung von Familie, der Modernisierung der Infrastruktur, der Weiterentwicklung unseres Bildungssystems? Alles wichtige Fragen. Sondern, dass man sich immer auch bewusst sein muss, dass die tatsächlichen Prioritäten, nicht nur in der Politik, sondern wie im richtigen Leben auch, kurzfristig ganz andere sein können. Und, dass es bei der Entscheidung, die jeder für sich als Wählerin und Wähler zu treffen hat, nicht zuletzt auch um die Einschätzung der Kompetenz, wie der Charakterstärke von Leuten geht, denen man die Verantwortung für die nächsten Jahre übertragen will.